Eine Zeitenwende – auch für die Kirchen in Russland und der Ukraine

Regina Elsner
Die Ostkirchenexpertin Regina Elsner Bild: ZOIS

Der 24. Februar 2022 war auch für die Kirchen in der Ukraine und in Russland eine Zeitenwende – wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise. Im Interview erklärt Regina Elsner vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOIS), warum die orthodoxe Kirche in Russland so bedingungslos hinter dem System Putin steht, ob sich dieses enge Staat-Kirche Verhältnis lösen lässt und was die Kirchen für den Frieden tun können.  

Der 24. Februar war eine Zeitenwende – auch für die orthodoxen Kirchen in Russland und der Ukraine?

Das kann man mit Sicherheit so sagen. Wobei man zwischen den Kirchen in den beiden Ländern unterscheiden muss. Für die Kirchen in der Ukraine ist dieser Krieg natürlich eine radikale Zeitenwende, aber sie würden betonen, dass der Krieg bereits 2014 mit der Annexion der Krim begonnen hat. Für die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) ist die Zeitenwende gar nicht so groß, zumindest für die Kirchenleitung. Die Kriegspropaganda und die Ideologie dahinter wird von der Kirche nicht erst seit dem 24. Februar 2022 unterstützt. Sie ist lange gewachsen und vielleicht bedeutet der 24. Februar nur eine Verwirklichung, eine radikale Umsetzung dessen, was man sich vorher theoretisch gedacht hat.

Warum unterstützt sie den Krieg? Nur um weiter staatliche Unterstützung zu erhalten?

Dass der Patriarch und die anderen Bischöfe und Laien in der Kirchenführung ihre Machtposition stärken wollen, ist sicher ein Grund. Aber die breite Mehrheit der Russischen Orthodoxen Kirche konnte sich im Laufe der letzten 30 Jahre auch nicht damit abfinden, dass die Ukraine und die ukrainischen Kirchen eigenständig sein wollen. Die Vorstellung, dass man im Notfall mit militärischer Gewalt dort für Ordnung sorgen muss, ist weit verbreitet. Und die ROK hat, wenn sie die Ukraine verliert und wenn sie die ukrainischen Kirchen verliert, ein großes Identitätsproblem. Wer ist sie, wenn Kiew, die Stätte der Taufe der Rus, nicht mehr unter ihrer Verfügungsgewalt steht?

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Regina Elsner wird auch beim „Politischen Nachtgebet“ am Donnerstag, 23. Februar, um 19.30 Uhr in der „Kleinen Kirche“ neben dem Dom in Osnabrück sprechen. Der Abend steht unter dem Titel „Es ist Krieg. Ein ratloser Psalm“. Neben Regina Elsner wirkt auch Diakon Gerrit Schulte mit. Anschließend besteht die Möglichkeit zur Begegnung im Forum am Dom. Das „Politische Nachtgebet“ ist eine Veranstaltung von Katholischer Erwachsenenbildung (KEB), der Abteilung Seelsorge im Bischöflichen Generalvikariat, dem Forum am Dom und der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Osnabrück.

Aber die Russisch-Orthodoxe Kirche hat durch ihre Zustimmung zum Krieg doch die Orthodoxe Kirche der Ukraine gänzlich verloren – diese hat sich 2022 von der Vorherrschaft der ROK losgesagt.

Das kann man rational nicht mehr gut erklären: Dass man vorgibt, dort in der Ukraine die eigenen Gläubigen schützen zu wollen – ähnlich wie es die Politik ja auch sagt, man wolle dort Russen vor dem Feind aus dem Westen beschützen – und gleichzeitig sind es russische Bomben und Soldaten, die Kirchen zerstören und Menschen töten. Deswegen hat sich die Ukrainische Orthodoxe Kirche mehrheitlich von Moskau getrennt. Was aber deutlich wird, wenn man sich die Texte durchliest: Für die ROK werden in der Ukraine gerade neue Märtyrer geschaffen. Diejenigen, die dem Moskauer Patriarch treu bleiben, das sind die wahren Gläubigen, der kleine Rest, der übrigbleibt und den die ROK dann nach dem Krieg zu neuen Heiligen und Märtyrern erklären wird.

Ist dieser Krieg auch Ausdruck einer fehlenden Staatserzählung in Russland? Dass nach dem Ende der Sowjetunion eben ein identitäres Vakuum da ist, das unter anderem mit der Orthodoxie gefüllt werden kann?

Ja, das hat miteinander zu tun. Man hatte in den 1990er Jahren ein großes Problem mit der eigenen Identität. Da war die Frage: Jetzt ist die Sowjetunion zusammengebrochen und was bleibt nach 70 Jahren Sozialismus übrig? Politiker haben genauso wie die Kirche Anfang der 2000er Jahre nach und nach die Geschichte konstruiert, dass man eben dieses große Land ist, das immer siegreich war. Und man hat als naheliegendstes Erfolgserlebnis diesen Sieg über den Faschismus im Zweiten Weltkrieg gefunden und ihn dann als Kern der neuen russischen Identität etabliert. Das sehen wir jetzt in diesem Krieg: die Argumentation mit der man in Russland mobilisiert, ist, dass Russland Europa wieder vor dem Nationalsozialismus und vor dem Faschismus, der aus dem Westen kommt und in der Ukraine Einzug gehalten hat, retten muss. Das sind die zentralen Argumente, nach denen man in den letzten zwei Jahrzehnten vom Kindergarten bis zur Veteranenverehrung ein Geschichtsbild aufgebaut hat.

Dabei sitzt doch eigentlich in Russland ein Regime mit faschistischen Zügen…

Ja, das ist wirklich eine Pervertierung. Es hat stark mit unserer Zeit von Fakenews und Verschwörungstheorien zu tun, dass Menschen in ihrer Vorstellung davon, was Wahrheit ist, verunsichert sind. Die politische Macht kann die Menschen dann einfach manipulieren und sagen, dass Russland schon immer gegen den Faschismus gekämpft hat. Die Russen sehen die Unterdrückung im eigenen Land nicht mehr, weil sie seit Jahrzenten von den Feinden von außen und den ausländischen Agenten hören, die Russland angeblich von innen zerfressen. Das ist wirklich tief in die Menschen eingedrungen.

Kann es einen ökumenischen Dialog mit der Russisch-Orthodoxen Kirche geben?

Man muss kucken, mit wem man spricht. Die Kirchenleitung und auch das Außenamt, das für die ökumenischen Kontakte zuständig ist, sind aus meiner Perspektive keine Gesprächspartner mehr. Die stehen eindeutig an der Seite des Staates, der Staatsideologie. Jede Begegnung, jeder Dialog wird genutzt, um ihn für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Das haben inzwischen auch die großen ökumenischen Partner sehr deutlich verstanden.

Gibt es in der Russisch-Orthodoxen Kirche „Selbstheilungskräfte“, die die Kirche verändern können?

Natürlich gibt es in dieser Kirche Menschen, die mit der Haltung dieser Kirchenleitung grundsätzlich nicht einverstanden sind. Sie versuchen sich auf einem sehr niedrigen Level, so wie es in einem repressiven Staat möglich ist, zu wehren. Aber die Gruppen sind sehr klein und werden stark unterdrückt. Ich bin skeptisch, dass dies Kräfte dazu führen, dass sich die Russische Orthodoxe Kirche in ihrer heutigen Form verwandeln kann. Davor muss es ein umfassendes Eingeständnis der Schuld geben, die diese Kirche auf sich geladen hat. Es gibt gute Theologinnen und Theologen aus der orthodoxen Tradition, die dazu in der Lage sein werden, aber das braucht eine institutionelle Struktur, das können nicht nur ein paar freischwebende Gläubige oder Theologen machen. Es gibt ein reiches Erbe in der russischen Tradition, aus dem man so eine Verwandlung schöpfen könnte, aber das braucht sehr viel Zeit.

Beim Blick auf die Ukraine: Die Regierung würde gerne die Ukrainische Orthodoxe Kirche verbieten, weil sie zu nah an Russland sei. Was halten sie von einem Verbot?

Von einem Verbot einer Religionsgemeinschaft halte ich gar nichts. Aber ich habe den Eindruck, dass das ein vollständiges Verbot erstmal wieder vom Tisch ist. Das war eine große Diskussion Ende vergangenen Jahres. Man hat Beweise für Kollaboration mit Russland gefunden, die zeigen, dass es nach wie vor Verbindungen gibt. Aber das betrifft eben nicht die gesamte Kirche. Die Kirche hat sich in einem für sie selbst sehr schmerzhaften Prozess im Mai 2022 durchgerungen, sich vom Moskauer Patriarchat loszusagen und für viele ukrainische Gläubige ist das entscheidend.

Was kann der Beitrag der Kirchen in Russland und der Ukraine zum Frieden sein?

Ich bin sehr skeptisch, ob die Kirchen Akteure sein können, die versöhnend oder friedensvermittelnd wirken. Dafür sind diese Kirchen in beiden Ländern viel zu sehr in den Krieg verstrickt und zu sehr Teil des Problems. Bei der ROK zeichnet sich nicht ab, dass sie dem Staat ihre Unterstützung entzieht, da sehe ich überhaupt keine Hoffnung. Für die Ukraine glaube ich, dass die Kirchen sehr viel tun könnten, um in der Ukraine für Versöhnung zu sorgen. Die orthodoxen Kirchen könnten sich annähern, einen offenen Dialog miteinander eingehen, versuchen dieses tiefe gegenseitige Misstrauen auszuräumen. Dann hätte man den größtmöglichen Effekt zur Stärkung der ukrainischen Gesellschaft in diesem Krieg und auch für die Zukunft der Ukraine.

Noch ein kleiner Blick auf die katholische und evangelische Kirche in Russland: Diese sind dort Minderheiten. Was hat der Krieg hier verändert?

Ich habe für die Caritas in Russland gearbeitet und habe immer noch Verbindungen zu russischen Katholiken. Die Situation jetzt ist für diese eine enorme Herausforderung. Gerade am Anfang kamen ja auch keine Gelder, keine Hilfsgüter mehr nach Russland und die Kirche dort existiert zu einem großen Teil aufgrund der Spenden aus Deutschland und Westeuropa. Das war wirklich ein dramatisches Problem, dass sie ihre Mitarbeiter nicht bezahlen und keine Hilfe mehr an die Schwachen in der Bevölkerung ausgeben konnten. Das wird für die protestantischen Kirchen ähnlich sein. Insgesamt muss man sagen, dass sich die Religionsfreiheit in Russland sehr verschlechtert hat. Das Religionsgesetz und die Beschränkungen von Religionsfreiheit sind für den Staat ein sehr einfaches Mittel, wenn in diesen Kirchen Protest oder Kritik am Krieg deutlich wird. Sobald es in diesen Kirchen irgendwie ambivalente Äußerungen zu diesem Krieg geben sollte, wird der Staat ihre Tätigkeiten einschränken. Dass ist ein Damoklesschwert, das über den kirchlichen Gemeinschaften hängt, gerade über den kleinen, und das die prophetische Arbeit, die eine Kirche in der Gesellschaft leisten sollte, fast unmöglich macht.

Abschließend: Der 24. Februar als Zeitenwende – wie hat sich ihre Arbeit geändert?

Das hat verschiedene Ebenen: Für meine Kollegen in Russland und der Ukraine hat sich das Leben völlig verändert und das erschwert natürlich den wissenschaftlichen Austausch. Ich habe nach wie vor keine Möglichkeit in die Ukraine oder nach Russland zu reisen, das heißt, wir können uns vor Ort keinen Eindruck verschaffen, wie die Menschen, wie die Kirchen mit dieser Lage umgehen, das erschwert Feldforschung. Und ein anderer Aspekt ist, dass ich seit einem Jahr sehr viele Vorträge halten und Interviews geben muss, weil in Deutschland und auch international der Wissensbedarf enorm ist, warum die Kirchen die Rolle spielen, die sie spielen. Es gibt sehr wenig Wissen darüber und viele Menschen möchten das jetzt verstehen. Für mein Fach, die Ostkirchenkunde, ist das zwar eine einmalige Gelegenheit, aber dass der Umstand ein Krieg ist, ist natürlich dramatisch und das hätte ich mir auch anders gewünscht.