Auge um Zahn

Bibelfenster zum 26. Februar 2014:

[In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern:] Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.

Einheitsübersetzung, Matthäus 5, 38-39

Einem, der mich schlägt, auch noch die andere Wange hinhalten? Geht’s noch? Als Kind fand ich diese Aufforderung Jesu ziemlich daneben. Sie traf nicht nur mein Selbstwertgefühl, sondern auch mein Gerechtigkeitsempfinden. Da half mir der Hinweis meines Vaters, dass Jesus selbst anders reagierte, als man ihm beim Verhör vor dem Hohepriester ins Gesicht schlug – nämlich mit Protest: „Wenn es nicht recht war, was ich gesagt habe, dann weise es nach; wenn es aber recht war, warum schlägst Du mich?“ (Johannes 18,23)
Heute kann ich es als ein Zeichen von Stärke und Größe sehen, die Spirale von Gewalt und Gegengewalt friedfertig zu durchbrechen. Für ein gutes Miteinander („Auge in Auge“ statt „Auge für Auge“), für einen nachhaltigen Frieden sind „Engelskreise“ der Güte aussichtsreicher als Teufelskreise der Gewalt. Persönlich kann ich das Risiko eingehen, dass der andere nochmal zuschlägt, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn.

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Etwas anderes ist es, wenn ich sehe, wie Starke Schwächere schlagen. Und auch das eher nicht mit Händen, sondern mit Worten, mit Missachtung, mit Ausgrenzung, durch ungerechte Strukturen. Im Privaten, im Beruf, in Politik und Gesellschaft, in der Kirche. Was dann? Meine Wange kann ich hinhalten, aber was ist mit der Wange eines anderen?
Bloße Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit, ohne echten Frieden ist zu wenig. Doch ohne Gerechtigkeit ist ein Frieden faul. Die christliche Nächstenliebe gipfelt in der Zumutung der Feindesliebe. Genauso verwirklicht sie sich in der Solidarität mit Schwächeren und Benachteiligten, in der persönlichen Begegnung und durch gesellschaftliche Strukturen. Gerechtigkeit ist nicht nur den Christen ein Anliegen, aber uns muss sie erst recht ein Anliegen sein, linke Wange hin oder her…

Martin Splett, Caritasverband für die Diözese Osnabrück