Warum hast du mich verlassen?
Bibelfenster zum 4. April 2012:
Als die sechste Stunde kam, brach über das ganze Land eine Finsternis herein. Sie dauerte bis zur neunten Stunde. Und in der neunten Stunde rief Jesus mit lauter Stimme: Eloï, Eloï, lema sabachtani? – das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Einige von denen, die dabeistanden und es hörten, sagten: Hört, er ruft nach Elija! Einer lief hin, tauchte einen Schwamm in Essig, steckte ihn auf einen Stock und gab Jesus zu trinken. Dabei sagte er: Lasst uns doch sehen, ob Elija kommt und ihn herabnimmt. Jesus aber schrie laut auf. Dann hauchte er den Geist aus. Da riss der Vorhang im Tempel von oben bis unten entzwei. Als der Hauptmann, der Jesus gegenüberstand, ihn auf diese Weise sterben sah, sagte er: Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn.
Einheitsübersetzung, Markus 15, 33-39
Es ist wieder einmal Palmsonntag, an dem die Kirche der letzten Stunden Jesu gedenkt, einer Hinrichtung, die in ihrer Grausamkeit und Erniedrigung kaum zu übertreffen ist. Man ist versucht, diese Geschichte nicht an sich heran zu lassen. Man möchte wegschauen.
Trotzdem ist das Motiv nicht unbekannt: Menschen machen sich zum Richter über Leben und Tod anderer Menschen. Wie oft ist davon in den Zeitungen zu lesen, dass politische Gegner einfach ermordet werden, dass Rebellen durch wahllose Morde die Menschen eines Landes einschüchtern oder dass ein Regime unliebsame Pressevertreter einfach verschwinden lässt.
Wie stehe ich eigentlich zu den Leidenswegen unserer Zeit? Lasse ich mich von diesen Schicksalen treffen? Oder bin ich einfach zufrieden damit, dass es mich nicht unmittelbar getroffen hat?
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Jesus steht verlassen vor seinen Richtern, ausgeliefert von Menschen, die sich davon Vorteile versprechen. Er sucht keinen Ausweg, schleicht sich nicht davon, verhandelt nicht über mögliche Kompromisse. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ – so sein klagender Ruf, der die Tragik dieser Situation deutlich macht: Eigentlich ist er doch gekommen, um Menschen zum Leben zu verhelfen und das Reich Gottes anzukündigen.
Warum also dieses schreckliche Ende? – So möchte ich fragen und werde doch keine einfache Antwort finden. Diese Frage nach dem „Warum“ von Leid und Sterben wird offen bleiben.
Dennoch bekomme ich eine Idee davon, was Erlösung bedeutet: Keine Nacht ist so dunkel, kein Abgrund so tief, dass Gottes Sohn sie nicht kennt. Erlösung ist kein Mantel des Schweigens, auch keine gute Zurede im Sinne von „Es wird schon wieder!“. Erlösung ist die Aufhebung allen Leidens und Sterbens vom Kreuz her. Jesu Kreuz ist Anforderung an uns im alltäglichen Umgang mit Leid und Tod und zugleich verheißungsvolle Zusage in unserer Ohnmacht.
Christian Adolf