Die Wunden der Welt
Bibelfenster zum 10. April 2016
Am Abend dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht vor den Juden die Türen verschlossen hatten, kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch! Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, dass sie den Herrn sahen. Jesus sagte noch einmal zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sprach zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist! Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben; wem ihr die Vergebung verweigert, dem ist sie verweigert.
Thomas, genannt Didymus (Zwilling), einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Die anderen Jünger sagten zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er entgegnete ihnen: Wenn ich nicht die Male der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in die Male der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht. Acht Tage darauf waren seine Jünger wieder versammelt und Thomas war dabei. Die Türen waren verschlossen. Da kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch! Dann sagte er zu Thomas: Streck deinen Finger aus – hier sind meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete ihm: Mein Herr und mein Gott! Jesus sagte zu ihm: Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.
Noch viele andere Zeichen, die in diesem Buch nicht aufgeschrieben sind, hat Jesus vor den Augen seiner Jünger getan. Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.
Einheitsübersetzung, Johannes 20,19-31
Thomáš Halík erzählt in seinem Buch „Berühre die Wunden“ von einer Begebenheit, die sich ihm tief eingeprägt hat. Er war in Indien auf den Spuren des Apostels Thomas und besuchte u.a. in Madras ein Kinderheim. Das Elend der vielen Kinder, die eingezwängt mit dicken Hungerbäuchen, geröteter Haut und fiebrigen Augen in ihren kleinen Bettchen wie in Geflügelkäfigen lagen, ging ihm sehr nahe. Bedrückt vom Anblick des Elends und bedrängt vom üblen Geruch wollte er so schnell wie möglich aus dem Kinderheim fliehen. Da fiel ihm die Stelle aus dem Johannesevangelium ein, die erzählt, dass der auferstandene Herr den Apostel Thomas auffordert, seine Wunden zu berühren. Das war der Weg, auf dem der Apostel den Herrn erkannte.
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Thomáš Halík ist wie von einem Pfeil getroffen und notiert: „Wie kann ich den Herrn erkennen wollen, wenn ich vor den Wunden der Welt fliehen will und ihnen den Rücken zukehre. Wir müssen sie zumindest sehen, berühren, und uns von ihnen ergreifen lassen. Wenn ich ihnen gegenüber gleichgültig, ungerührt, unverwundet bliebe – wie könnte ich dann den Glauben und die Liebe zu Gott bekennen, den ich nicht sehe (1 Joh 4,20). Denn dann sähe ich Ihn wirklich nicht! … Ein Glaube, der die Augen vor dem menschlichen Leid verschließen möchte, ist eine Illusion oder Opium.“ (S. 19)
Dieses Zeugnis von Thomáš Halík bewegt mich angesichts der Wunden, die uns das Fernsehen täglich liefert: die Wunden der Welt in den Flüchtlingslagern, die Wunden in den vom Terror heimgesuchten Menschen, aber auch in den Wunden der Menschen hier in meinem Lebensfeld. Es ermutigt mich, in Krankenbesuchen, in seelsorgerlichen Gesprächen oder kurzen Begegnungen zwischendrin die Wunden anzuschauen, die mir die Menschen zeigen.
P. Franz Richardt