Dokumentation der Predigt von Bischof Dr. Franz-Josef Bode im ökumenischen Gottesdienst zum Tag der deutschen Einheit 2010 am 3. Oktober im Dom zu Bremen.
Lesung (aus der Einheitsübersetzung):
Hört! Ein Sämann ging aufs Feld, um zu säen. Als er säte, fiel ein Teil der Körner auf den Weg und die Vögel kamen und fraßen sie. Ein anderer Teil fiel auf felsigen Boden, wo es nur wenig Erde gab, und ging sofort auf, weil das Erdreich nicht tief war; als aber die Sonne hochstieg, wurde die Saat versengt und verdorrte, weil sie keine Wurzeln hatte. Wieder ein anderer Teil fiel in die Dornen und die Dornen wuchsen und erstickten die Saat und sie brachte keine Frucht. Ein anderer Teil schließlich fiel auf guten Boden und brachte Frucht; die Saat ging auf und wuchs empor und trug dreißigfach, ja sechzigfach und hundertfach. Und Jesus sprach: Wer Ohren hat zum Hören, der höre!
(Mk 4,3-9)
„Hört! Ein Sämann ging aufs Feld, um zu säen.“ Ein uraltes Gleichnis, liebe Festgemeinde, passend zum Erntedankfest. Passend auch zu dieser Feier, in der wir für 20 Jahre deutsche Einheit danken. Denn unglaublich Vieles ist in den zwei Jahrzehnten gesät und eingebracht worden an Einsatz, an Bereitschaft zur Erneuerung, an Willen zum Aufbau und zur Gestaltung der Zukunft, und eben auch an Geld und Gut. Das alles in einem beispiellosen und friedlichen Vorgang, in einer bis heute anhaltenden Wende, in der Mauern fielen und die Mauern in den Köpfen und Herzen mehr und mehr abgebaut werden.
Die Saat dieses hohen Einsatzes ist auf unterschiedlichen Boden gefallen. Sie hat nicht nur positives Wachstum hervorgebracht. Die Saat ist – wie im Evangelium – teils auf den Weg gefallen und sozusagen auf der Strecke geblieben. Anderes fiel auf zu dünnes Erdreich über dem harten Felsen der Vorurteile und Eingefahrenheiten oder in einem zu schnellen oberflächlichen Fortschritt, wo Quantität vor Qualität ging und die Seele nicht mitwachsen konnte.
Manches ist auch unter die Dornen geraten, wurde überwuchert von Profitgier, von der Herrschaft des Marktes, von alten und neuen Verstrickungen der Macht, vom Gestrüpp undurchsichtiger Machenschaften. Darin kann man durchaus auch einen gewissen Verlust der Mitte und des Grundes erkennen, die das ganze Geschehen eigentlich auszeichnen: nämlich Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität.
Auch die Saat des Wortes Gottes, die aus dem christlichen Raum so viel zur friedlichen Wende beigetragen hat, ist nicht einfach nach langer Entfremdung zu breiter Blüte gelangt. Sie ist nicht einfach auf hungrigen, begierigen Boden gefallen, sondern muss sich ihr Wachsen in kleinen, aber durchaus hoffnungsvollen Pflänzchen erst erringen.
Also eine Menge Saat auf nicht nur bestem Acker. Aber, und dafür dürfen wir heute wirklich sehr dankbar sein, das meiste ist auf guten und fruchtbaren Boden gefallen. Es hat hundertfach Früchte gebracht, die ohne Zweifel das Misslungene übermächtigen. Wir dürfen und sollten dankbar sein für das Geschenk dieser Wende, auch wenn die neue Freiheit, das neue Miteinander, die neue Einheit vom gesamten inneren und äußeren Aufwand her eine Menge gekostet haben. Selbst eine erstaunlich friedliche Umwandlung einer Gesellschaft verläuft nicht ohne schmerzliche Erfahrungen, wie auch die Geburt neuen Lebens und neuer Zukunft mit Wehen verbunden ist. Und dennoch bleiben der Dank und die Freude die angemessene und notwendige Antwort auf dieses Wunder. – Der Einigungsprozess war und ist kein Zuckerschlecken, doch Freiheit ist immer die menschlichere Option, hat der Erfurter Bischof Wanke kürzlich gesagt.
Liebe Schwestern und Brüder, jedes mal bin ich zutiefst bewegt, wenn ich in Helmstedt-Marienborn über die Landesgrenze fahre, wenn ich an die schrecklichen Schikanen und die geduldstrapazierenden Grenzkontrollen denke, auch an die Ängste, die wir zu DDR-Zeiten bei den Begegnungen von Theologen und Priestern des geteilten Erzbistums Paderborn-Magdeburg oder des Bistums Osnabrück-Mecklenburg erlebten. Nicht weniger berührt, erinnere ich mich auch an meinen ersten freien Gang durch das Brandenburger Tor ohne jeden Ausweis.
Wer sollte das nicht als Fruchtbarkeit einer guten Saat ansehen, die einen guten Boden gefunden hat, der freilich von uns immer noch besser zu bereiten ist.
In den gegenwärtigen Krisen-Zeiten in Gesellschaft, Kirche und Welt sollten wir die Dankbarkeit und Freude über ein geeintes, starkes Deutschland als Herausforderung begreifen, alles zu tun, um aus den echten, tiefen Wendekräften weiterhin Schwungkraft zu beziehen. „Wer Ohren hat zum Hören“, der achte auf die Zeichen der Zeit und der vergangenen 20 Jahre: auf die Probleme, Nöte und Suchbewegungen der Menschen und auch auf Gott, dem wir den Geist der Einheit verdanken. Deshalb sind wir nicht zuerst im Rathaus oder in der Stadthalle, sondern hier im Dom versammelt. Deshalb halten wir zuerst inne und vergewissern uns des Grundes, auf dem wir stehen, bevor wir zur konkreten Zukunftsgestaltung übergehen.
So können aus der Verwurzelung in den christlichen Bodenschichten unserer Gesellschaft neue Früchte der Gerechtigkeit und des Friedens wachsen. So wird auch nicht im Namen der Neutralität des Staates eine negative Religionsfreiheit weiter um sich greifen, eine religiöse Geruch- und Geschmacklosigkeit, sondern eine positive, bereichernde Religionsfreiheit. Also nicht Freiheit von Religion, sondern Freiheit für Religion. „Kluge Politik ist sich bewusst“, so war vor kurzem in einer großen Wochenzeitung zu lesen, „dass ihr die Herausforderung durch den Glauben und die Gläubigen guttut, als Widerlager gegen Bequemlichkeit und Hybris – das ist das entscheidende Argument für die Präsenz der Religion im öffentlichen Raum.“ (Jan Ross in der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 5. August 2010)
„Wer Ohren hat zum Hören, der höre“ – auf die Herausforderung dieser Stunde am Erntedanktag in unserer Kirche und in unserem Land: nämlich es nicht aufzugeben, der Saat unseres gemeinsamen Einsatzes, der Saat unserer gemeinsamen Verantwortung und auch der Saat des Wortes Gottes weiterhin einen guten Boden zu bereiten. Dann werden wir für die Menschen aller Generationen in unserem Land eine nachhaltig gesegnete Zukunft ernten. Amen.