„Es geht nicht um perfekt. Gut genug reicht völlig, um 2025 glücklich zu sein“
Oft heißt es: „Neues Jahr, neues Glück“. Aber wie werde ich glücklich? Wie bestehe ich die vielen Krisen, die das neue Jahr vom alten übernommen hat – von der Weltpolitik bis ins Private? Und was braucht es, um auch unter widrigsten Umständen gesund zu bleiben, sowohl körperlich als auch psychisch? Christoph Hutter, Leiter der Ehe-, Familien-, Lebens- und Erziehungsberatung im Bistum Osnabrück, gibt dazu hier im Interview einige wertvolle Tipps.
Das neue Jahr ist noch recht jung. Trotzdem blickt mancher eher skeptisch darauf. Die Kriege sind immer noch da, der Klimawandel auch. Viele schauen sorgenvoll auf den neuen US-Präsidenten. Und dazu kommen persönliche Ängste und Probleme und Sorgen um den Arbeitsplatz. Wie geht man mit so einer Mischung um?
Erstmals finde ich es wichtig, dass man hinschaut und nicht wegschaut. Innere Stabilität fängt damit an, sich mit der Situation, in der man ist, auseinanderzusetzen.
Andererseits ist völlig klar, dass die angesprochenen Probleme in ihrer Gesamtheit vom Einzelnen nicht bewältigbar sind. Wir sprechen seit einiger Zeit vom Polykrisenmodus, vom Multikrisenmodus. Wenn ich die Themen einzeln adressiere, merke ich, dass sie mehr oder weniger händelbar sind. Manche Sachen muss tatsächlich die Weltgeschichte regeln und anderes muss ich möglicherweise mit einem Berater aus der Arbeitsagentur besprechen. Es ist wichtig das zu unterscheiden, um nicht in der schieren Masse der Probleme unterzugehen.
Um diese ganzen Herausforderungen bewältigen zu können, wird mittlerweile oft von Resilienz gesprochen. Aber was ist Resilienz?
Für mich ist Resilienz wirklich ein Schlüssel zu einem völlig neuen Verständnis von Psychologie. In den 1970er Jahren forschte Aaron Antonovski in Be’er Scheva in Israel an der Uni. Seine Hypothese war, Frauen, die die Shoah erlitten haben, sind so vorgeschädigt, dass eine zweite Krise ihnen mehr zusetzen kann, als Frauen, die eine weniger belastete Biografie hatten. Er hat dann in seinen Daten bemerkt: Ein Drittel der belasteten Frauen kamen auffallend gut durch die zweite Krise. Und dieses Drittel ist die Zauberzahl der Resilienzforschung. Wir sehen immer wieder, dass mindestens ein Drittel der hochbelasteten Menschen ihr Leben beeindruckend gut meistern. An dieser Stelle hat Antonovski seine Forschungsfrage gefunden: Wie kann das sein, dass ich unter widrigsten Umständen gesund bleibe? Das ist für mich eine der zentralsten Fragen, die wir überhaupt haben.
Und was macht uns gesund?
Aaron Antonovski hat drei große Antworten gegeben. Wenn ich verstehen kann, was gerade läuft, trägt das zur Resilienz bei. Die Orientierten sind die Resilienten. Zweitens: Selbstwirksamkeit. Wie kann ich in irgendeiner, sei es auch nur minimalen Art und Weise, handlungsfähig bleiben? Weil das, was Menschen selber machen, macht die Menschen stark. Die Menschen, die sich als selbstwirksam erleben, sind die Resilienten. Und das Dritte: Wenn ich irgendeine Sinnperspektive habe, dann gehöre ich zu den resilienten Menschen. Die Leute, die wissen wohin, sind die resilienteren.
Neben Aaron Antonovski gab es dann in Amerika Emmy Werner. Sie hat bei ihren Forschungen auf der Insel Kauai einen vierten großen Resilienzfaktor entdeckt: Beziehung. Wer einen liebevollen Elternteil hatte, einen Lehrer, eine Lehrerin, die sich um ihn kümmerte, oder wer wenigstens tragfähige Peerkontakte hatte, war in Werners Untersuchung resilienter. Also wenn die Leute diese vier Faktoren haben, gewinnt die psychische und auch die körperliche Gesundheit. Das muss jede Institution wissen, das müssen Eltern wissen, das muss Schule wissen.
Und wie hilft man Menschen, sich dieser vier Faktoren zu bedienen?
Im Beratungsgespräch deklinieren wir das sehr konkret durch. Wenn es heißt: Ich habe Sorge um meinen Arbeitsplatz, fragen wir: Was heißt das genau? Gibt es eine konkrete Kündigung? Haben Sie entschieden, sich juristischen Beistand zu holen? Haben Sie schon mal nach einem anderen Arbeitsplatz geguckt? So kommen wir in die Selbstwirksamkeit, wir kommen ins Handeln.
Eines der riesengroßen Themen in den Beratungsgesprächen der letzten Zeit ist: Wo wollen Sie hin? Was ist für Sie gutes Leben? Wir wissen aus der Psychologie, dass die Frage fünf Dimensionen hat: 1. Was willst du eigentlich selber? Willst du Sport machen oder nicht? Was willst du lernen? Wer willst du sein? 2. Wer ist dir nahe und mit wem willst du unterwegs sein? 3. Welche Projekte willst du angehen? 4. Hast du genug Zeit für Muße und Erholung? 5. Gibt es eine Sinnperspektive in deinem Leben?
Aber manchmal weiß man ja eigentlich auch, was man zu tun hat und dann hindert einen der innere Widerstand, manche sagen: der innere Schweinehund. Wie überwindet man den?
Jeder kennt dieses Tier und jeder weiß, dass der manchmal gewinnt. Ein freundlicherer Blick auf uns selbst hilft mehr, als ein zu hoher Anspruch. Weil dann kommen wir in so eine Instagram-Mentalität: Ich habe alles im Griff und es ist alles auf Hochglanz poliert und überall liegt ein Filter drüber. Aber ich bin ein Mensch. Und manchmal darf mein innerer Schweinehund gewinnen, weil auf dem Sofa ist es auch schön.
Und es muss nicht alles perfekt sein! Dieser Perfektionismus stresst uns unendlich. Ich glaube, es geht darum, dass unser Leben gut genug sein darf. Es geht nicht um perfekt. Gut genug reicht völlig. Ich glaube, diesen Blick, den wünsche ich den Menschen immer wieder, und zwar nicht nur Anfang Januar. Es lohnt sich, alle vier bis sechs Wochen ein Kreuzchen im Kalender zu machen und dann zu checken: Ist alles einigermaßen im grünen Bereich? Und wenn ich dann Baustellen identifiziere, wie zum Beispiel: „Ich würde gerne mehr Sport machen“, dann muss ich an der Schraube drehen. Wenn ich mir aber sage: „Ich komm mit ein wenig Radfahren auch gut durchs Leben“, dann scheint es mir im Moment nicht so wichtig zu sein und ich sollte nicht versuchen, irgendwelchen abstrakten Ansprüchen zu entsprechen. Es geht darum, dass man als Mensch seine Wahlen so trifft, dass man sagt: „Das entspricht ungefähr dem, worunter ich mir gutes Leben vorstelle.“
Ist es ein Zeichen von Resilienz, wenn ich sage: „Mein Leben muss nicht immer perfekt sein, muss auch nicht immer glücklich sein“?
Definitiv! Das ist ein ganz wertvoller und auch ein gesunder Satz. Das hat auch mit dem Thema Narzissmus zu tun. Die eine Seite vom Narzissmus ist die Angst, dass ich mal nicht 100 Prozent habe, dass ich mal nicht so glücklich bin, dass ich nicht die ganze Anerkennung bekomme. Der eigentliche Kern des Narzissmus ist aber die Krankheit, nicht leiden zu können. Narzissmus heißt, die eigene Verletzlichkeit nicht aushalten zu können. An diese Seite müssen wir ran. Als Therapeut*innen sehen wir seit langem schon, dass das Thema Begnügen und Begrenzen ganz wichtig ist. Donald Winnicott, ein britischer Familien-Analytiker, sagte den Müttern: Man muss keine gute Mutter sein, es reicht eine „gut genuge“ Mutter zu sein. Seine eigenen Bedürfnisse sehen und die Bedürfnisse des Kindes. Und diese dann so miteinander zu versöhnen, dass etwas Praktikables herauskommt. Dieses „gut genug“, das brauchen wir dringend, weil uns alles andere in die narzisstische Falle jagt, die uns so unglaublich auslaugt. „Gut genug“ ist eine ganz zentrale Kategorie, um 2025 glücklich zu werden.
Und wie komme ich ins Handeln?
Handeln und die Welt mitzugestalten ist eine Grunddimension des guten Lebens. Diese „Weltgestaltung“ hat drei Aspekte. Der erste ist: Habe ich mein eigenes? Da geht es um Eigentum, um den eigenen Raum. Ich sage das oft in Gesprächen über Trennung und Scheidung: Nichts ist für Kinder so demütigend, wie die Zahnbürste von Mama zu Papa und umgekehrt tragen zu müssen, weil sie in beiden Wohnungen keine eigene Zahnbürste haben. Auch im beruflichen Bereich ist es wichtig, einen Bereich zu haben, in den niemand hineinpfuscht. Also habe ich was Eigenes, wie pflege ich es, wie gestalte ich es?
Das zweite ist der Teil, der sich um die Arbeit dreht. Das kann die Erwerbsarbeit sein, das kann Ehrenamt sein, das können Nachbarschaftsaktivitäten sein. Wo sind Räume, die ich gestalte? Der Mensch will immer wieder Neues in die Welt bringen.
Die dritte Dimension von Selbstwirksamkeit ist der politische Raum: Vermitteln wir der nächsten Generation, dass es möglich ist, sich einzumischen? „Fridays for Future“ und die „Letzte Generation“ haben es wunderbar vorgemacht, wie das geht, in den öffentlichen Raum zu gehen. Wie die jungen Leute sich einbringen, passt nicht jedem, da kann man viel kritisieren. Ich finde es auch in Ordnung, dass die Kritik geäußert wird. Trotzdem würde ich jeden ermutigen: Versuche, dich politisch sichtbar zu machen. Und versuche, den politischen Raum mitzugestalten.
Es gibt ein schönes Beispiel dafür, wie früh Selbstwirksamkeit und Weltgestaltung gelernt werden können. Wenn junge Eltern in die Erziehungsberatung kommen, habe ich ihnen oft vorgeschlagen, in den Kinderwagen ein ganz weiches Seidenband vom Schlafsack des Babys über den Galgen am Mobile zu befestigen. Weil das Kind strampelt und das Mobile sich dann bewegt. Das Kind ist fasziniert von der Bewegung. Nach dem zehnten Mal hat das Kind völlig klar, dass es einen Zusammenhang zwischen seinem Strampeln und dieser Bewegung des Mobiles gibt. Da hat es das erste Mal kapiert, dass es die Welt bewegen kann. Das ist eine Erfahrung, die können wir der nächsten Generation nicht früh genug, und die können wir den Menschen in unserer Umgebung nicht oft genug verschaffen. Selbstwirksame Menschen sind die gesünderen und resilienteren und oft auch die freundlicheren und zufriedeneren Zeitgenossen.
Hilft der Glaube, resilienter zu werden?
Wir haben ja vier Resilienzfaktoren: Verstehbarkeit, Gestaltbarkeit, Sinnhaftigkeit und Einbindung. Die letzteren beiden gehen eindeutig parallel zu Angeboten, die wir vom Glauben her machen. Der Glaube ist eine Welt- und Sinndeutung und sagt: Wenn du diesem Jesus und seiner Botschaft glaubst, wenn du dich in diese jüdisch-christliche Tradition stellst, dann gibt es Ziele, für die es sich lohnt, sich zu engagieren. Diese Ziele einer jesuanischen Botschaft können im heutigen Potpourri der Sinndeutungen extrem gut mithalten, weil sie so liebevoll, weil sie so gerecht sind. Und der vierte Resilienzfaktor – Bindung, Einbindung, Zugehörigkeit – ist exakt parallel zum Kommuniogedanken. Also: Funktionierende jüdisch christliche Praxis ist immer eine, die versammelt, die anspricht, die Beziehungsangebote macht.
Weitere Infos
Die Ehe-, Familien-, Lebens- und Erziehungsberatung im Bistum Osnabrück ist ein psychologischer Fachdienst, der Eltern, Kinder, Jugendliche und Erwachsene berät – als Einzelpersonen, Familien oder Teilfamilien. Beratungsstellen gibt es an verschiedenen Standorten im Bistum Osnabrück. Kontakt und Infos finden Sie hier auf der Internetseite.
Man hat das Gefühl, dass die Probleme heute immer komplexer werden. Die Sehnsucht nach einfachen Lösungen steigt. Wie entkomme ich dem?
Ich halte es mit Einstein. Der soll gesagt haben: „Für jedes komplexe Problem gibt es eine simple Lösung. Und die ist fast immer falsch.“ Daran sollten wir uns einfach immer wieder erinnern. Es geht um Komplexität und um Relevanz. Es gibt diese eine Seite, wo alles hochkomplex ist. Das ist alles wichtig, aber es ist nicht alles immer relevant für jede einzelne Entscheidung. Zum Beispiel: Klimawandel und die wirklich heikle Frage, wie das mit den Flugreisen ist. Wir wissen, wie schädlich, Flugreisen fürs Klima sind und trotzdem gibt es einzelne Reisen, bei denen ich sage „Nein, es ist so relevant, dass ich dort bin und an den Diskussionen teilnehme, die dort stattfinden.“ Wichtig ist, zu kapieren, dass an der Stelle die Diskussion anfängt und dass sie nicht aufhört. Die simple Lösung wäre zu sagen: Ich will dorthin. Ist mir egal. Das Untergehen in der Komplexität wäre, dass man auf ewig und immer diskutieren muss und alles ist ganz schrecklich problematisch und unlösbar. Ich glaube, wir müssen uns in einer Ellipse bewegen. Es gibt Komplexität, die müssen wir sehen und akzeptieren. Und es gibt immer wieder Kriterien für einzelne Entscheidungen und ich bin bereit, die offen zu legen. So werden wir immer wieder an Punkte kommen, wo wir Lösungen finden. Auch einfache Lösungen, die nicht simpel sind.