Moral für Hochbegabte?

Einstein Graffiti
Bild: unsplash.com, Sidney Perry

„Ihr wisst, dass unseren Vorfahren gesagt worden ist: ‚Du sollst nicht morden!‘ Ich sage euch aber: Schon wer auf seinen Bruder oder seine Schwester wütend ist, gehört vor Gericht. Wer zu seinem Bruder oder seiner Schwester ‚Dummkopf‘ sagt gehört vor den jüdischen Rat. Wer ‚Idiot‘ sagt, der gehört ins Feuer der Hölle.“

„Ihr wisst, dass gesagt worden ist: ‚Du sollst nicht die Ehe brechen!‘ Ich sage aber: Wer die Frau eines anderen begehrlich ansieht, hat mit ihr schon die Ehe gebrochen – in seinem Herzen hat er es getan.“

Matthäusevangelium 6,21-22; 27-28 (Basisbibel)

 

Das klingt unsinnig: „Wenn etwas dir schwer fällt, dann schraube die Ansprüche noch höher.“ „Wenn du Dich schon am Rande des Machbaren bewegst, mute dir noch mehr zu.“  „Wenn Du nach einem fünf Kilometer Lauf am Ende bist, setze dir das Ziel zehn Kilometer zu laufen.“

Aber ist das mit der ethischen Unterweisung Jesu nicht so ähnlich, verdoppelt er nicht den moralischen Anspruch mit jedem „Ich aber sage Euch“? Ist es beispielsweise nicht schon schwer genug, dem Ehepartner lebenslang die Treue zu halten – und nun soll schon der Gedanke, ihn für einen anderen zu verlassen und diesen zu begehren vom Teufel sein?

Es ist doch schon schwer genug einen Moralkodex zu formulieren, der alle bindet, den alle einsehen und nach Kräften einhalten können – warum diese Radikalisierung? Ist es nicht besser den Ball flach zu halten, so dass alle mitspielen können, als die Messlatte so hoch zu legen, dass allenfalls ein paar Ausnahmeheilige heranreichen können? Halten sich nicht immer mehr Menschen auch innerhalb der Kirche nicht mehr an kirchliche Gebote, weil deren Ansprüche an die Lebensführung der Menschen als im Leben nicht umsetzbar und weltfremd empfunden werden? Liegt nicht die Wurzel einer weltfremden kirchlichen Moral hier, in der sogenannten Bergpredigt, in der Jesus sich mit seiner Verkündigung bewusst abhebt von den Vorstellungen seiner Umgebung? Wenn er sagt: „Ich aber sage euch“, nicht die Taten eines Menschen entscheiden über Gut und Böse, sondern bereits Gefühle, Fantasien und Gedanken zählen.

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Zwei kleine Erfahrungen reizen mich an diesem Ansatz Jesu und verlocken mich, ihm Recht zu geben:

Manchmal läuft „nach außen“ noch alles rund, eine Partnerschaft, eine Arbeitsbeziehung – doch innerlich sind die Weichen anders gestellt, machen sich Enttäuschung, Kränkungen oder Vorentscheidungen breit. Wer Brüche vermeiden will und neu beginnen möchte, muss innerlich anfangen. Warum also nicht wirklich dort ansetzen, wo die Ursachen liegen und nicht erst dort, wo die Folgen sichtbar werden?

Diese innere moralische Hygiene kann überfordernd wirken, aber vielleicht gehört sie zu dieser Art „Überforderungen“, die am Ende unerkannte Kräfte freisetzen und auf ungeahnte Weise entlasten. Dazu fällt mir eine kleine Geschichte ein:

Ich war mit einer kleinen Gruppe unterwegs, die sich zu meinem Leidwesen entschloss, eine Bergwanderung zu machen. Eigentlich wollte ich nicht mitmachen, weil ich wusste, dass ich es physisch kaum schaffen werde. Wir wollten nur einen Rucksack mitnehmen, in dem der Proviant für alle mitgenommen wurde.  Wer bot sich an, den Rucksack zu tragen? Zu meinem Erstaunen meldete ich mich. Heute weiß ich nicht mehr, aus welcher Motivation heraus. Gut aber erinnere ich mich daran, dass ich als eine der Ersten oben auf dem Berg war. Weil ich den Rucksack trug, wurde ich von vorne gezogen und von hinten angeschoben. Ich bekam viel Hilfe und bin sicher: Nur weil ich den Rucksack trug, die zusätzliche Last, habe ich es bis auf den Berg geschafft.

Ina Eggemann