Sehen und gesehen werden
Und siehe, ein Gesetzeslehrer stand auf, um Jesus auf die Probe zu stellen, und fragte ihn: Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben? Jesus sagte zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? Er antwortete: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und deinem ganzen Denken, und deinen Nächsten wie dich selbst. Jesus sagte zu ihm: Du hast richtig geantwortet. Handle danach und du wirst leben! Der Gesetzeslehrer wollte sich rechtfertigen und sagte zu Jesus: Und wer ist mein Nächster? Darauf antwortete ihm Jesus: Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halbtot liegen. Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging vorüber. Ebenso kam auch ein Levit zu der Stelle; er sah ihn und ging vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam zu ihm; er sah ihn und hatte Mitleid, ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein eigenes Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn. Und am nächsten Tag holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme. Wer von diesen dreien meinst du, ist dem der Nächste geworden, der von den Räubern überfallen wurde? Der Gesetzeslehrer antwortete: Der barmherzig an ihm gehandelt hat. Da sagte Jesus zu ihm: Dann geh und handle du genauso!
Lukas 10, 25–37
Vor drei Jahren habe ich eine kleine Auszeit in Berlin gemacht. Dort habe ich einige Wochen in der Suppenküche der Franziskaner in Pankow angeheuert. Die Gäste in der Suppenküche waren Obdachlose und Menschen, die zwar eine kleine Wohnung haben, denen aber sonst vieles fehlt. In Gesprächen mit den Gästen der Suppenküche wurde mir deutlich, dass vielen nicht nur eine Lebensgrundlage in Form von Wohnung, Essen und Geld fehlt, sondern noch viel mehr. Viele berichteten davon, dass sie auf der Straße ignoriert werden, dass andere bewusst weg gucken, wenn ein Obdachloser am Straßenrand sitzt oder sogar die Straßenseite wechseln, und vielen nicht einmal reagieren, wenn man sie direkt um etwas zu essen oder etwas Geld bittet, sondern stumm und genervt weitergehen.
An diese Gespräche musste ich denken als ich in diesen Tagen das Evangelium von diesem Sonntag las. Ähnlich wie den Obdachlosen aus Berlin wird es wohl auch dem Mann gegangen sein, als er halbtot auf der Straße lag. Nachdem die Räuber dem Mann sein Hab und Gut geklaut haben, haben der Priester und der Levit ihm auch noch seine Würde genommen, in dem sie ihn übersehen und ignoriert haben und einfach genervt weitergegangen sind. Erst der Samariter versorgte nicht nur seine Wunden, sondern gab ihm auch sein Mensch-Sein zurück.
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„Dann geh und handle du genauso“ ist die simple und doch so herausfordernde Botschaft Jesu.
„Genauso“ kann heißen: Obdachlose und Hilfsbedürftigen auf der Straße zu unterstützen, mit 50 Cent oder einem Brötchen. Und genauso wichtig: sie als Menschen (an-)zusehen – durch ein Lächeln, einen freundlichen Blickkontakt oder ein herzliches „Guten Tag“.
Pastoralreferent Bernd Overhoff