Alles eine Sache der Übung

Frau macht Yoga
Bild: unsplash.com, Sonnie Hiles

Sie ist einige Jahre älter als ich und heute hilft sie mir dabei, Horst für die Reitstunde fertig zu machen: Trensen, Satteln, … Horst, der eigentlich Jack Sparrow heißt und ein sehr schönes Pferd ist, ist auch jung und braucht eine Person, die ruhig und bestimmt ist und ihm Sicherheit gibt. Kann ich heute nicht. Viel Unsicherheit gerade in meinem Leben. Er ist nervös, also bin ich nervös, also ist er nervös … ich versteh schon, das ist unklug, aber so läuft das mit Pferden (und mit dem Leben). Ich bin frustriert. Warum passiert mir so was immer wieder, wenn ich es doch eigentlich besser weiß?

„Wir haben doch alle gute und schlechte Tage, genauso wie die Pferde“, sagt sie. Und ergänzt dann: „Mir hat mal jemand gesagt: Reiten ist wie Yoga machen, du wirst nie fertig, du wirst es nie komplett können. Deshalb sagen die Yogis nicht ,ich mache Yoga‘, sondern: ,Ich übe Yoga.‘“

Hm. Ich übe Yoga. Ich übe Reiten. Ich übe das Leben. Und damit werde ich nie fertig? Ist das nicht traurig?

Dazu fällt mir Folgendes ein (jetzt kommen zwei sehr große Themensprünge). Letztens besuchte ich eine Lesung der Autorin Şeyda Kurt, und da sagte sie: „Feminismus ist super traurig, weil du sozusagen für eine Welt kämpfst, die du selbst niemals erleben wirst.“ Also ist es mit dem Feminismus auch so, dass man nie fertig wird. Manche halten Feminismus für unnötig, weil Frauen doch jetzt auch wirklich schon viel bekommen haben, muss man doch sagen. Statistiken und wissenschaftliche Untersuchungen zeigen etwas anderes; verschiedentlich kann man lesen, dass es theoretisch noch 131 Jahre dauern würde, bis wir eine völlige Geschlechtergerechtigkeit erreicht hätten, wenn es so weitergeht wie bisher.[1] Also im Jahr 2154 (das liegt 96 Jahre nach meinem voraussichtlichen Renteneintritt. Ich will mir das nur mal bildlich vorstellen). Klingt nach biblischen Zahlen. Und irgendwie unerreichbar.

Und dann muss ich an die Vorstellung vom Reich Gottes denken: Diese Utopie von Gerechtigkeit, Gleichheit und Frieden für alle Lebewesen ist ja eben eine biblische. Jesus spricht vom Reich Gottes, dem erfüllenden, für alle friedenbringenden Dasein bei Gott. Es beginne schon, es sei „mitten unter uns“, meint Jesus. Natürlich kommen wir nicht „dort“ an, natürlich werden wir nicht fertig damit, trotzdem kann es hier schon spürbar sein. Das ist die Idee: Wir können das gar nicht selbst vervollständigen, erreichen, aber wir können damit anfangen. Es, ja, üben, um beim Wort zu bleiben. Es geht eher um einen Vorgeschmack, eine Ahnung, einen Teaser, in dem wir selbst mitspielen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie es sein könnte, wenn wirklich, wirklich, wirklich alles gut ist.

Über die Autorin

Katie Westphal ist Pastoralassistentin. Sie schreibt Texte über Lebens- und Alltagsfragen und ist immer auf der Suche nach der richtigen Hintergrundmusik. Außerdem erzählt sie gern davon, wie es ist, Christin und Feministin zu sein: Eine gute Kombination, wie sie findet.

Unbefriedigend? Vielleicht. Vielleicht aber auch inspirierend, wohltuend. Ein kleines bisschen erfüllend, wenn ich jetzt schon so tue, wenn ich mich jetzt schon dafür einsetze, einfach weiter übe.

Denn: Alles wird hier immer unvollständig bleiben. Fehleranfällig. Stimmungsabhängig. Irgendwo wird irgendwer irgendwas falsch machen. Oder dann doch wieder nicht genug kriegen von ein bisschen mehr Macht. Oder einfach zu wenig wissen. Die Rechnung ist aber auch einfach: Wenn niemand deshalb irgendetwas tut, wird nichts getan.

Aber das Gute ist bei allem: Kontinuierliches Üben bedeutet, gar nicht fertig werden zu müssen. Ich darf Fehler machen. Ständig neu anfangen. Wenn wir alle laufend das Leben üben wie beim Yoga oder Reiten, wenn ich mich entscheide, Feminismus zu verteilen, am Reich Gottes mitzuwirken (oder mich von der Idee „ergreifen“[2] zu lassen), dann könne wir gar nicht viel falsch machen: Dann ist es allein schon ein Gewinn, dass wir es versuchen.


[1] Je nach Faktoren, die untersucht werden, schwankt diese Zahl – und ist natürlich auch nur theoretisch. 131 Jahre bis zur weltweiten Gleichstellung, was es beispielsweise Chancen in Politik und Wirtschaft angeht, sind es laut dem World Economic Forum im Jahr 2023. Siehe: https://de.statista.com/infografik/11682/der-lange-weg-zur-geschlechtergerechtigkeit

[2] Der Frage, ob wir als Menschen in unserer aktuellen kirchlichen Situation eigentlich am Reich Gottes „bauen“ können oder nicht, geht dieses Interview nach: „Mehr Gott, weniger Kirche.“ Neutestamentler erklärt Bedeutung des Reiches Gottes. Interview von Hendrik Stens mit Axel Hammes, Domradio, 26.11.2023: https://www.domradio.de/artikel/neutestamentler-erklaert-bedeutung-des-reiches-gottes