Familie sind wir alle

Bibelfenster zum 12. Juni 2015

Jesus ging in ein Haus, und wieder kamen so viele Menschen zusammen, dass er und die Jünger nicht einmal mehr essen konnten. Als seine Angehörigen davon hörten, machten sie sich auf den Weg, um ihn mit Gewalt zurückzuholen; denn sie sagten: Er ist von Sinnen. (…) Da kamen seine Mutter und seine Brüder; sie blieben vor dem Haus stehen und ließen ihn herausrufen. Es saßen viele Leute um ihn herum, und man sagte zu ihm: Deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und fragen nach dir. Er erwiderte: Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder? Und er blickte auf die Menschen, die im Kreis um ihn herumsaßen, und sagte: Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Wer den Willen Gottes erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter. 

Einheitsübersetzung Markus 3, 20-21,31-35

Dieses Wort klingt hart. Seine Familie sorgt sich um Jesus, aber er kanzelt sie ab. „Wer ist meine Mutter, wer sind meine Brüder?“ Harsche Töne berichtet auch das Lukas Evangelium. Der zwölfjährige Jesus entfernt sich auf einer Pilgerfahrt nach Jerusalem von den Eltern, die ihn erst nach drei Tagen finden. „Dein Vater und ich haben dich voll Angst gesucht!“ Der Junior belehrt trotzig die Eltern: „Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht …!“ (Lukas 2,49) Seine Mutter, die mit dem Jünger, den Jesus liebte, unter dem Kreuz steht, spricht er auf eigenartige Weise distanziert an: „Frau, siehe dein Sohn!“ (Johannes 19,26)

Das Bibelfenster

Hier kommentieren jede Woche Menschen aus dem Bistum Osnabrück eine Bibelstelle aus einer der aktuellen Sonntagslesungen – pointiert, modern und vor allem ganz persönlich.

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Jesus und Familie – das ist ein ganz eigenes Thema. Das Idealbild des Katechismus lässt sich daraus kaum ableiten. Haltungen und Werte schon eher. Seine Lehren und Gebote wollen Wegweiser zu einem gelingenden Leben sein: Einander annehmen wie Gott uns annimmt, Verlässlichkeit leben; in Krisen einander tragen und ertragen, lieben und verzeihen; offen sein für Kinder, verantwortlich und liebevoll füreinander sorgen … All das ist unbezahlbar und schon deshalb Kirche und Gesellschaft lieb und teuer. Familien sind Sehnsuchtsorte der Menschen – gerade auch in ihrer Brüchigkeit. Vielleicht wird deshalb so viel über Ehe und Familie gestritten – über homosexuelle Ehen, über wieder verheiratete Geschiedene, über deren Zugang zu den Sakramenten, auf der Familiensynode in Rom …

Familie steht als Lebensentwurf nach wie vor hoch im Kurs. Andererseits ist sie auch durch viele Faktoren gefährdet. Ursachen sind häufig Erschöpfung und ausgebrannt sein durch die Belastungen aus Erziehung und Pflege. Ebenso drücken die Nöte, Familie und Beruf miteinander in Einklang zu bringen. Ökonomische Zwänge belasten nicht nur Alleinerziehende und Arbeitslose. Auch Normalverdiener haben vielfach Sorgen, wie sie das alles schultern sollen. Welch ein Widerspruch: Kinderreichtum gilt hierzulande als Armutsrisiko.
Viele Familien leiden unter mangelnder Wertschätzung: Familien- und Erziehungsarbeit gelten wenig, Erwerbsarbeit alles! Auf drei Eheschließungen kommt in Deutschland eine Scheidung. Und dennoch lässt die Sehnsucht nach einer gelingenden Beziehung den Menschen offenbar keine Ruhe: Jede vierte Ehe ist in Deutschland eine Wiederverheiratung.
Familie sind wir alle. Auch die, die nicht verheiratet sind oder keine eigenen Kinder haben. Auch sie sind Kinder, Brüder oder Schwestern, Onkel und Tanten, Nichten und Neffen … Familien, in welcher Form auch immer, sind Lernorte in Kirche und Gesellschaft für Werte wie Liebe und Zuwendung, Beziehung und Bindung, Verlässlichkeit und Solidarität. Sie verdienen unsere Unterstützung. In welcher Buntheit und Vielfalt sie sich auch immer zeigen mögen.

Kirche und ihre Caritas tun eine ganze Menge dafür: Sie unterhalten Einrichtungen und Orte, an denen Familien Rat und Zuspruch finden: Familien-, Erziehungs- und Lebensberatungsstellen, Familienbildungsstätten, Erholungs- und Kureinrichtungen für Mütter und Väter, Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, Häuser für junge Mütter, Kindertagesstätten und Schulen … Aber Kirchen und Gemeinden müssen sich auch immer wieder fragen: Warum kommen so viele Familien nicht mehr? Warum erhoffen die Enttäuschten oftmals nichts mehr von der Kirche? Und wie begegnen Kirche und Gemeinden all denen, die neue Formen von Familie leben?
An diesem Punkt fordert das harsche Wort Jesu die Christen heraus. „Wer den Willen Gottes erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.“ Als Gottes Kinder sind wir alle Familie Gottes. In Jesu Nachfolge sind wir alle aufgerufen, seinen Willen zu tun, unseren Brüdern und Schwestern barmherzig und in Liebe zu begegnen. Wir sollten uns als Kirche weniger auf Ausgrenzungen und Disziplinierungen als auf die heilende Kraft der Sakramente besinnen, mit denen wir Menschen in ihren persönlichen Lebenssituationen beistehen können.

Gerrit Schulte, Diakon