Ein furchtloser Geist
Es war da einer von den Pharisäern namens Nikodemus, ein führender Mann unter den Juden. Der suchte Jesus bei Nacht auf und sagte zu ihm: Rabbi, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist. Jesus antwortete ihm: (…) Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der an ihn glaubt, in ihm ewiges Leben hat. Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern das ewige Leben hat.
Neue Einheitsübersetzung Johannes 3,1-3a, 14-16
Es gibt schon tolle Gestalten in der Bibel. Manchmal kommen sie so unscheinbar daher wie Nikodemus im Evangelium vom Sonntag. Ein Schriftgelehrter, der dem Hohen Rat angehörte, der höchsten jüdischen Behörde mit Sitz in Jerusalem; er war Pharisäer, also Anhänger einer religiös-politischen Gruppierung. Ein Lexikon bringt das auf den zeitgemäßen Nenner: „Nikodemus war alles in allem: Theologieprofessor, Abgeordneter und hoher Parteifunktionär.“
Nikodemus begegnet in den Evangelien nur bei Johannes, dort aber an drei Stellen. Zuerst in einem längeren Gespräch. Jesus hat gerade die Händler aus dem Tempel vertrieben. Viele sind empört. Nikodemus macht da nicht mit: Er will sich ein eigenes Bild machen. Er geht in der Nacht zu Jesus und sucht das Gespräch. Mit großer Wertschätzung und auf Augenhöhe. Der Schriftgelehrte fragt: Wie kann das geschehen, wie muss ich das verstehen?
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Auch die weitere Szene, in der Nikodemus auftritt, ereignet sich in aufgeheizter Atmosphäre. Der Streit um Jesu öffentliches Auftreten eskaliert im Hohen Rat. Weil sich sogar die Gerichtsdiener von Jesus beeindruckt zeigen und den Unruhestifter nicht verhaftet haben, rufen die Mächtigen im Hohen Rat: „Habt auch ihr euch in die Irre führen lassen. Dieses Volk, das vom Gesetz nichts versteht, verflucht ist es.“ In dieser gefährlichen Situation steht einer auf und wagt den Widerspruch. Es heißt: „Nikodemus aber, einer aus ihren eigenen Reihen, (…) sagte zu ihnen: Verurteilt etwa unser Gesetz einen Menschen, bevor man ihn verhört und festgestellt hat, was er tut?“ Nikodemus lässt sich nicht einschüchtern. Die Reaktion ist entsprechend. Wie so oft, wenn sachlich nichts erwidert werden kann, wird auf die Beziehungsebene gewechselt: „Bist du vielleicht auch aus Galiläa?“ (Joh. 9, 37ff)
Zuletzt begegnet Nikodemus bei der Grablegung Jesu. Josef von Arimathäa bittet Pilatus, den Leichnam Jesu vom Kreuz nehmen zu dürfen, und dann heißt es bei Johannes: „Es kam auch Nikodemus, der früher einmal Jesus bei Nacht aufgesucht hatte. Er brachte eine Mischung aus Myrrhe und Aloe, etwa hundert Pfund. Sie nahmen den Leichnam Jesu und umwickelten ihn mit Leinenbinden, zusammen mit den wohlriechenden Salben, wie es beim jüdischen Begräbnis Sitte ist.“ (Joh. 19, 39-40) Jesus wurde wie ein Verbrecher hingerichtet und so wäre auch sein Leichnam beseitigt worden. Man ließ die Hingerichteten zunächst hängen und warf sie dann einfach auf den Müll. So wurden sie nochmals entehrt. Nikodemus setzt hier erneut ein Zeichen des Widerspruchs gegen die Kultur des Todes: Er wahrt die Würde Jesu.
Nikodemus : Er sucht Jesus auf, er ist einer, der Gott wirklich sucht. Ein Fragender. Er wagt im Hohen Rat den Widerspruch zur herrschenden Meinung, zum Mainstream – wie wir heute sagen; er ist also nicht nur ein kluger sondern auch ein furchtloser Geist; und er kommt zum Handeln, zur Tat, wo es um die Würde des Menschen geht. – Wir brauchen heute viele Menschen wie ihn.
Gerrit Schulte, Diakon