„…denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34)

Fastenmeditation 5

Beleidigern verzeihen und Lästige ertragen

5. Fastensonntag, 13. März 2016

Lesung
Zusammen mit Jesus wurden auch zwei Verbrecher zur Hinrichtung
geführt. Sie kamen zur Schädelhöhe; dort kreuzigten sie ihn und die
Verbrecher, den einen rechts von ihm, den andern links. Jesus aber
betete: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Dann
warfen sie das Los und verteilten seine Kleider unter sich.
Die Leute standen dabei und schauten zu; auch die führenden Männer
des Volkes verlachten ihn und sagten: Anderen hat er geholfen,
nun soll er sich selbst helfen, wenn er der erwählte Messias Gottes ist.
Auch die Soldaten verspotteten ihn; sie traten vor ihn hin, reichten
ihm Essig und sagten: Wenn du der König der Juden bist, dann hilf dir
selbst! Über ihm war eine Tafel angebracht; auf ihr stand: Das ist der
König der Juden. Lk 23,32-38

Jesus am Kreuz, umgeben von Lästerern und lästigen Menschen.

Angesichts dieses Bildes hat mich ein Gebet des vor über dreißig Jahren
(1984) verstorbenen Theologen Karl Rahner vor dem Gekreuzigten so sehr
beeindruckt, dass ich es hier als längeres Zitat vortragen möchte:

„Du hängst am Kreuz. Sie haben dich angenagelt. Von diesem Pfahl zwischen
Himmel und Erde kommst du nicht mehr weg. Die Wunden brennen
in deinem Leib. Die Dornenkrone martert dein Haupt. In deinen Augen
schwimmt das Blut. Die Wunden deiner Hände und Füße sind, als seien deine
Glieder durchbohrt von einem glühenden Eisen. Und deine Seele ist ein Meer
von Trauer, Schmerz und Hoffnungslosigkeit.

Die das alles angerichtet haben, stehen unter deinem Kreuz. Sie gehen
nicht weg, um dich wenigstens allein sterben zu lassen. Sie bleiben. Sie lachen.
Sie finden, dass sie recht haben und dass eben dein Zustand der augenscheinlichste
Beweis dafür ist: ein Beweis, dass, was sie dir antaten, Erfüllung heiligster
Gerechtigkeit, ein Gottesdienst ist, auf den sie stolz sein dürfen. Und darum
lachen sie. Sie spotten, sie lästern. Und über dir schlägt, entsetzlicher als aller
Schmerz des Leibes, die Verzweiflung über solche Bosheit zusammen.

Gibt es Menschen, die solcher Gemeinheit fähig sind? Wo ist noch zwischen
dir und ihnen irgendein Gemeinsames? Darf ein Mensch einen andern so zu
Tode quälen? Mit Lüge, Gemeinheit, Verrat, Heuchelei und Tücke so zu Tod
quälen und dabei noch den Schein des Rechtes für sich haben und die Miene
des Unschuldigen und die Pose des sachlichen Richters? Und Gott lässt das
in seiner Welt geschehen? Und der Feinde Lachen und Hohn darf frisch und
siegesbewusst in Gottes Welt hineindringen? Ach Herr, unser Herz wäre zerbrochen in rasender Verzweiflung. Wir hätten den Feinden geflucht und Gott
dazu. Wir hätten aufgeheult und mit der Hand wie wahnsinnig am Nagel
gezerrt, um noch einmal die Faust ballen zu können.

Du aber sagst: Vater, vergib, denn sie wissen nicht, was sie tun. Du bist
unbegreiflich, Jesus. Wo ist in deiner zermarterten, vom Schmerz zerwühlten
Seele noch ein Platz, auf dem dieses Wort erblühen kann? Du bist unbegreiflich.
Du liebst deine Feinde. Du empfiehlst sie deinem Vater. Du betest für
sie. Ach Herr, wenn es nicht lästerlich ist zu sagen: Du entschuldigst sie mit
der unwahrscheinlichsten Entschuldigung, die es gibt – sie hätten es nicht
gewusst. Sie haben doch alles gewusst. Sie haben doch alles nicht wissen
wollen! Und was man nicht wissen will, das weiß man im tiefsten, verhohlenen
Verlies des Herzens ja doch. Aber man hasst es und darum will man es
nicht hervorkommen lassen ins klare Bewusstsein. Und du sagst, sie wissen
nicht, was sie tun. Eins aber haben sie wirklich nicht gewusst: deine Liebe zu
ihnen, denn sie kann nur der kennen, der selbst dich liebt. Denn nur der Liebe
geht das Verständnis für geschenkte Liebe auf.

Sprich auch über meine Sünde das Vergebungswort deiner unbegreiflichen
Liebe. Sag auch für mich dem Vater: Verzeih ihm, denn er weiß nicht, was er
tat. Zwar hab‘ ich es gewusst. Alles. Aber deine Liebe doch nicht.

Lass mich auch an dein erstes Wort am Kreuze denken, wenn ich gedankenlos
im Vaterunser behaupte, ich vergebe meinen Schuldigern. O mein
Gott, am Kreuz der Liebe: Ich weiß nicht, ob mir wirklich jemand etwas schuldig
ist, das ich ihm vergeben könnte. Aber auch so braucht es deine Kraft,
um denen zu verzeihen, von Herzen zu vergeben, die mein Stolz und meine
Ichsucht als Feinde empfinden.“
(K. Rahner, Gebete des Lebens, hrsg. v. Albert Raffelt, Freiburg 1984, S.62 ff.)

So weit Karl Rahner.
„Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun …“

„Wie oft muss ich meinem Bruder verzeihen?“, wird Jesus von Petrus gefragt.
„Siebenmal?“
„Nein, siebenundsiebzigmal“ (vgl. Mt 18,21 ff),
immer und immer wieder.

Was Petrus völlig unmöglich erscheint, hat Christus am Kreuz erfüllt –
und viele Menschen durch die ganze Heilsgeschichte mit ihm,
so wie Stephanus bis hin zu den Märtyrern unserer Zeit,
wie unsere „Lübecker Kapläne“, die in diesem Dom geweiht wurden.

Aber wir? Im Alltag?

Beleidiger können einem manchmal mehr zusetzen als notorische Sünder
oder Schuldiggewordene.

Es sind die tausend Nadelstiche, zynische bis sarkastische Äußerungen, öffentliche
oder persönliche Bloßstellungen in niederträchtiger Absicht, die einen
zur Weißglut bringen.

Jesus, der seine ganze Gottverlassenheit herausgeschrien hat: „Eli, Eli, lema
sabachtani“, „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt
27,46), erfährt beißenden Spott: „Er ruft nach Elija. Wir wollen sehen, ob Elija
kommt und ihm hilft.“ (vgl. Mt 27, 47 f.)

Jeder kann sich Situationen vorstellen, in denen er explodieren möchte,
dreinschlagen möchte,
draufhauen möchte,
und zwar mit Recht.
Warum soll es da ein Werk der Barmherzigkeit sein,
dennoch sachlich zu bleiben und gar zu verzeihen?

Es ist ein Werk der Barmherzigkeit,
weil auch in den Angriffen des Beleidigers Motive und Begründungen
stecken,
die Erbarmen brauchen,
weil ein Mensch hier zu einem Hass kommt, der letztlich ihm selbst zutiefst
schadet.

Denn was man nicht wissen will, nicht begreifen, nicht akzeptieren will, „das
weiß man im tiefsten, verhohlenen Verlies des Herzens ja doch. Aber man
hasst es, und dann will man es nicht hervorkommen lassen ins klare Bewusstsein.“
Psychologen und Seelsorger können Lieder davon singen.

Es ist ein Werk der Barmherzigkeit,
weil es die Spirale des Hasses durchbricht, die sich so leicht hochschraubt.

Auch Neid und Eifersucht sind Gifte, deren Träger nur durch ein großes,
weites Herz zu entgiften sind.
Solche Groß-mut und Weit-herzigkeit,
solche Geduld und Vergebungsbereitschaft ist im Blick auf Jesus möglich,
wenn auch oft nur als Weg,
in oft vielen, mühsamen Schritten nach vorn und zurück.
Das ist bis ins Letzte nur zu leben im Blick auf Jesus.

Das gilt ebenso für das weitere Werk der Barmherzigkeit: Lästige ertragen.

Überall und immer wieder werden uns Menschen begegnen, die uns lästig
sind.
Genauso werden wir anderen Menschen lästig sein und aufdringlich,
auch wenn wir es oft nicht merken und wissen.

Wo Menschen sich zur Last werden, kann die Hölle auf Erden losbrechen.
Manche mögen sie aus eigener Kraft oder Ohnmacht ertragen;
es kann manchmal aber auch barmherziger sein, sich aus dem Weg zu gehen,
sich zu trennen;

oft sind uns aber auch die Hände gebunden
und wir stehen eingeklemmt zwischen den Belastungen durch andere.

Und dennoch bleibt gute Gemeinschaft im Großen und im Kleinen,
in Kirche und Gesellschaft,
in Familie und Gemeinde,
wenn die Geduld des Ertragens eingeübt wird.

Dieser Geduld widerspricht es nicht,
die Dinge beim Namen zu nennen
und nach erträglichen, tragfähigen Auswegen zu suchen.
Unser ausgeprägter Individualismus verunmöglicht aber oft diese Wege.
Manche Menschen bleiben mehr Aufgabe als Gabe;
manche kann ich nur im Gebet vor Gott tragen.

Schauen wir auf die weitere Szene in der Passion Jesu,
in dieser Schule des Verzeihens und Ertragens.
Die Zuwendung zu dem einen Mitgekreuzigten berührt uns in der Tiefe,
da ein einziges „Denk an mich …“ das Paradies öffnen kann.

Auch dazu möchte ich aus einem Gebet von Karl Rahner zitieren, das in
unserem Zusammenhang unnachahmliche Worte findet:

„Du bist in der Todesnot – und hast immer noch Platz in deinem von Qual
bis zum Rand erfüllten Herzen, Platz für fremdes Leid.
Du bist am Sterben – und sorgst dich für einen Verbrecher, der selbst noch
in seiner Qual zugeben muss, dass seine höllische Todesmarter für das Böse
seines Lebens nicht zu viel der gerechten Strafe ist.
Du siehst deine Mutter – und sprichst zuerst einmal mit dem verlorenen
Sohn.
Dich würgt die Gottverlassenheit – und du sprichst vom Paradies.
Deine Augen werden dunkel in der Nacht deines Sterbens, aber sie sehen
dennoch das ewige Licht.
Im Sterben ist man allein mit sich beschäftigt, weil man ja alleingelassen
und verlassen ist. Du aber sorgst dich um die Seelen, die mit dir einziehen
sollen in dein Reich.
O allbarmherziges Herz! O starkes und tapferes Herz!

Ein erbärmlicher Verbrecher bittet dich um ein Gedenken. Und du versprichst
ihm das Paradies. Wird alles neu, wenn du stirbst? Wird ein Leben
von Sünde und Laster so rasch verwandelt, wenn du ihm nahst? Wenn du
die Wandlungsworte über ein Leben sprichst, werden selbst die Sünden und
die abscheulichen Gemeinheiten eines Verbrecherlebens noch begnadigt und
verwandelt, dass nichts mehr hindert am Eingang in den heiligen Gott.

Siehe, ein bisschen guten Willen hätten wir ja auch solch einem Rohling
und Verbrecher zugestanden, so viel, dass er am Äußersten vorbeikommt.
Aber die bösen Gewohnheiten, die lasterhaften Triebe, die Rohheit und der
Schmutz, die Gewöhnlichkeit: das alles geht doch nicht schon weg durch ein
bisschen guten Willen und eine kurze Galgenreue! Ein solcher kommt doch
nicht so schnell in den Himmel wie die Büßer und die lange Geläuterten, wie
die Heiligen, die nichts taten als Leib und Seele zu heiligen und würdig zu
machen für den dreimal heiligen Gott! Du aber sprichst das Allmachtwort
deiner Gnade. Und es dringt in das Herz des Schächers, und es verwandelt
das Höllenfeuer seiner Todesnot in die läuternde Flamme göttlicher Liebe, die
in einem Augenblick alles verklärt, was als Werk deines Vaters noch in ihm
war, und alles verzehrt, was in diesem Leben als böse Schuld der Kreatur sich
gegen Gott versperrte. Und der Schächer geht mit dir ein ins Paradies deines
Vaters.

Wirst du auch mir die Gnade geben, dass ich nie den Mut verliere, kühn
von deiner Güte alles zu verlangen, alles zu erwarten? Den Mut zu sagen, und
wäre ich auch der verworfenste Verbrecher: Herr, gedenke meiner, wenn du
in dein Reich kommst! O Herr, lass dein Kreuz aufgerichtet sein an meinem
Sterbebett. Und dein Mund soll auch zu mir sprechen: Wahrlich, ich sage dir,
heute noch wirst du mit mir im Paradies sein. Dieses Wort selbst mache mich
würdig, dass ich, ganz geheiligt und entsündigt durch die läuternde Kraft des
Todes mit dir und in dir, eingehe in das Reich deines Vaters.
(K. Rahner, Gebete des Lebens, S. 64 ff.)

Hier kommt die Barmherzigkeit Gottes zum Höhepunkt.
Es ist die Barmherzigkeit, an der wir Maß nehmen sollen –
und sei es bescheiden, schrittweise und bruchstückhaft:
Auch wir sollen dazu beitragen, dass Menschen zum Paradies gelangen,
sollen nicht nur sprechen: „Denk an mich …“,
sondern auch: „Denk an ihn, an sie, denk an sie alle …“

„Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23,43).
Wieder dieses Heute, dieses heilvolle Heute,
das das dunkle Gestern hinter sich lässt
und einen neuen Morgen eröffnet,
das Paradies im Heute,
das nicht in einem unvordenklichen Urzustand besteht
und auch nicht in einem Zustand menschlicher Freiheit irgendwann einmal,
am Sankt-Nimmerleins-Tag.
Dieses Heute, das nicht Sehnsucht nach dem Gestern
und nicht illusionäre Träumerei für das Morgen bedient,
sondern deshalb heute,
weil es bedeutet, bei IHM zu sein,
mit IHM zu sein, schon hier und jetzt.

Paradies nicht Ort eines unbekannten Schlaraffenlandes,
sondern Sein bei Jesus, Sein mit Jesus,
mitten im Leiden,
aber auch mitten im Leben.

Wir kommen zum Ende unserer Betrachtungen:
Sieben Werke der Barmherzigkeit, in denen Jesus zu begegnen ist.
„Was ihr für einen meiner geringsten Brüder,
für eine meiner geringsten Schwestern getan habt,
das habt ihr mir getan.“ (vgl. Mt 25,40)
Es sind die leiblichen Werke der Barmherzigkeit:
Hungrige speisen,
Durstigen zu trinken geben,
Fremde aufnehmen,
Nackte bekleiden,
Kranke besuchen,
Gefangene besuchen,
Tote begraben.

Auch in den sieben geistigen Werken der Barmherzigkeit begegnen wir Jesus,
die eben nicht nur im Kopf oder im Herzen geschehen,
sondern den ganzen Menschen fordern
mit Fleisch und Blut,
mit Herz und Verstand,
mit Leib und Seele
und Hand und Fuß.

Die je sieben Werke, leibliche wie geistige,
machen ein Stück des Paradieses auf Erden erfahrbar,
weil sie durch,
mit,
in Christus getan werden, eingeübt und ausgeübt werden.

Diese Barmherzigkeit zu üben
– wenn auch in noch so kleinen, oft mühsamen Schritten und Rückschritten –,
ist Einübung ins Paradies,
Vorübung für ewiges Leben,
ist Einübung für den Himmel,
ist Einübung des Lebens mit Gott mitten unter den Menschen.

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