Frag mit deinen Händen nach den Geheimnissen des Himmels

Krippe
Krippe von Lena Bild: Sonja Hillebrand

In einer Predigtreihe im Advent geht es in der Kirche St. Johann Osnabrück um das Thema Krippe. Hier finden Sie die Predigt zum 1. Advent von Martina Kreidler-Kos:

Wir sind auf einer Pilgerreise in Italien, genauer in Assisi. Die ist ein richtiges Abenteuer, weil sich rund zweihundert große und kleine, fragende und zweifelnde Menschen mit und ohne Handicap gemeinsam auf den Weg gemacht haben. Wir wollen auf den Spuren des heiligen Franziskus und der heiligen Klara unseren Glauben neu entdecken. Heute besuchen wir den Ort Greccio. Das kleine Dorf liegt malerisch mitten in den Sabiner Bergen. Es wird das „franziskanische Bethlehem“ genannt.

Ich begleite die Gruppe und beginne im Bus zu erzählen: „Der heilige Franziskus gilt als ‚Erfinder‘ der Krippe. Er hatte genau vor 800 Jahren die Idee, die Weihnachtsgeschichte von den Feldern Bethlehems in die Bergwelt seiner italienischen Heimat zu holen. So sollte das Evangelium auch für die kleinen Leute erfahrbar werden. Dieses erste Krippenspiel hat in einer Höhle stattgefunden. Man kann das über dieser Höhle erbaute kleine Felsenkloster heute noch anschauen, den atemberaubenden Ausblick genießen und in der angrenzenden modernen Kirche Krippen aus aller Welt und den vielfältigsten Materialien bestaunen.“ Daraus machen wir kurzerhand ein Spiel: Wir sehen uns die Ausstellung an und die Kinder dürfen am Ende sagen, welche Krippe ihnen am besten gefallen hat. Zu meiner Überraschung siegt die Krippe aus Swarowski-Steinen. Das glitzernde, funkelnde kleine Arrangement finden sie besonders schön.

Eine lebendige Krippe

Eine Achtjährige zieht ungeduldig an der Hand ihrer Großmutter. Sie will unbedingt zum Parkplatz zurück. Schade, denke ich, der Platz dort unten ist nicht besonders schön und hier werden wir gleich zusammen picknicken, singen und spielen. Aber bevor ich noch etwas sagen kann, ist sie schon verschwunden. Was ich nicht weiß: Das Mädchen hat etwas vor. Sie sammelt unterwegs verschiedene Dinge: Eicheln, kleine Holzstücke, ein Schneckenhaus, einen Plastikfetzen, den sie am Wegrand findet. Die kleine Betonmauer unten am Parkplatz hat genau die richtige Höhe. Dort will sie ihre eigene Krippe bauen.

Das Schneckenhaus wird auf ein gebogenes Holzstück gesetzt und ist jetzt der Verkündigungsengel über dem zugigen Stall. Maria, Josef und das Jesuskind werden aus den ersten Eicheln gemacht – zwei große und eine winzig kleine. Die ist noch ganz grün, aber das Mädchen legt sie behutsam auf ein besonders schönes Blatt. Das blaue Stück Plastik wickelt sie um eine der größeren Eicheln. Sofort kann man Maria erkennen. Liebevoll und innig sucht sie alles zusammen, was sie braucht. Die Schafe sind aus kleinen Kieselsteinen, die Hirten aus Zapfen. Für den Stern muss sie eine Weile überlegen. Schließlich findet sie einen rostigen Draht, und die Großmutter biegt ihn zurecht.

Auf dem Weg zum Bus zurück können wir alle nur staunen. Was für eine besondere Krippe ist da entstanden! Wahrscheinlich hat dieses Mädchen, Lena heißt sie, am besten von uns allen verstanden, was Franziskus in Greccio eigentlich wollte: „Ich möchte das alles mit leiblichen Augen schauen“, soll er gesagt haben. Er wollte sehen, hören, riechen, spüren und anfassen, was damals in Bethlehem passiert ist. Er wollte seine unbändige Freude über die Gegenwart Gottes gegenständlich werden lassen. Und: Er wollte diese Erfahrung mit vielen teilen. Deshalb hat er eine lebendige Krippe zusammengesucht. Nicht, weil er besonders naiv gewesen wäre oder so viel für Folklore übriggehabt hätte, sondern weil er nicht aufhören konnte, über die Geschichte des menschgewordenen Gottes zu staunen. Es wird auch – in diesem Jahr 1223 – nicht die allererste Krippendarstellung gewesen sein, die je arrangiert wurde. In den kontemplativen Klöstern gab es diese Idee bereits. Aber Franziskus‘ Krippe ist die erste, die allen Menschen gilt. Man musste weder besonders fromm noch Teil einer privilegierten Klostergemeinschaft sein, um diese Erfahrung der Nähe Gottes machen zu können. Man musste bei Franziskus nur Sehnsucht haben. Von nah und fern sollte man vorbeikommen und teilhaben können.

Der Herr ist schon da

Dabei war es für Franziskus gar nicht so einfach, diese Idee auch in die Tat umzusetzen. Woher sollte er, der arme Bettelbruder, einen Ochsen oder einen Esel herbekommen? Und wer würde ihm – mitten im Winter – Heu zur Verfügung stellen? Das Futter für die eigenen Tiere, das man so dringend brauchte? Die Quellen erzählen, Franziskus habe zwei Wochen vor dem Weihnachtsfest mit einem befreundeten Edelmann gesprochen. Dieser hieß Johannes, mochte den kleinen Armen aus Assisi sehr gerne und schien nicht nur reich gewesen zu sein, sondern auch um „den Adel der Seele bemüht“, wie der Biograf schreibt. Also ein spirituell sensibler Mann mit genügend Geld und Kontakten, mit dem man ein spontanes, verrücktes Projekt verwirklichen konnte. Und eben: In dieser Höhle nahe dem kleinen Bergdorf Greccio lässt dieser Edelmann alles so vorbereiten, wie Franziskus sich das vorgestellt hat: Eine Krippe wird mit Heu ausgelegt und zwischen einem Ochs und einem Esel arrangiert. Von einem Kind ist spannenderweise nur in Form einer Vision die Rede. Es wird also kein reales Baby in dieser Krippe gelegen haben. Und das hat einen guten Grund: Den Erzählungen nach wird direkt über der Krippe Eucharistie gefeiert. Der Herr ist in Brot und Wein schon da.

Dieser Hinweis auf die Eucharistie klingt für uns selbstverständlicher als es damals gewesen ist. Man konnte sie nicht einfach sonst wo feiern und das Recht für Tragaltäre bekamen die Brüder des Franziskus nachweislich erst ein Jahr später. Aber genau diese Zusammenschau – Krippe und Eucharistie – war für den Heiligen entscheidend. Und hat ihn vielleicht dazu veranlasst, die Regeln nicht höher einzuschätzen als seine Sehnsucht nach der Gegenwart Gottes. Für ihn gehört unbedingt zusammen: Das Kind, das wir in der Krippe feiern, ist Gott, der immer wieder in unsere Gegenwart hinein wirklich geboren werden will. Und der uns in der Feier der Eucharistie so nahe ist, wie nirgends sonst.

Franziskus überlässt aber nicht einfach dem reichen Edelmann die ganze Vorbereitung. Er will diese Erfahrung ja nicht für sich allein, er will, dass alle Bewohnerinnen und Bewohner ringsum, die einfachen Leute aus den Bergdörfern und den Höfen in der Ebene mit ihm feiern. Deshalb wird er ordentlich die Werbetrommel gerührt haben in diesen zwei Wochen, er und seine Brüder klopfen an Türen, erzählen, laden emsig ein. Und offensichtlich treffen sie bei den Menschen einen Nerv. In der Christnacht 1223, so wird erzählt, strömen Frauen, Männer und Kinder herbei, bringen ihrerseits Fackeln und Kerzen mit und „hell wie der Tag wurde diese Nacht“, beschreibt es der Biograf. Und noch etwas weiß er zu berichten: „Menschen und Tiere machte sie glücklich.“ Bei dieser lebendigen Krippe, wo es raschelt von Menschen und Tieren, wo es duftet nach Heu und Wachs, wo Menschen zusammenstehen und warmer Atem in der kalten Nachtluft liegt, da singt Franziskus feierlich das Evangelium. Und er hält eine ergreifende Predigt. „Die ganze Nacht jauchzte auf“, heißt es überschwänglich in den Erzählungen. Und das Wichtigste: Damals, als das Weihnachtsfest so mit allen Sinnen in Erinnerung gerufen wurde, „ist das Kind Jesu im Herzen vieler neugeboren worden.“ (1 Celano 84-87)

Eine unglaubliche Geschichte

Darum geht es Franziskus im Jahr 1223 – und intuitiv auch unserer erfinderischen jungen Reisenden achthundert Jahre später: Das Weihnachtsgeschehen jenseits von Jahreszeiten und Trubel, von Klischees und Rührseligkeit buchstäblich zu begreifen. Denn es ist und bleibt eine unglaubliche Geschichte. Auch wenn wir sie noch so oft gehört haben, sie ist immer jung, dramatisch und existenziell. Nichts daran ist glatt und vorhersehbar, so vieles verwirrend und prekär: Da ist ein junges Paar, das heiraten will, aber noch bevor es dazu kommt, wird die Braut schwanger. Die Umstände sind mehr als mysteriös. Die Sache hätte böse ausgehen können, aber die junge Schwangere hat Glück. Ihr Verlobter hält trotz allem zu ihr, ein Traum kommt ihm zu Hilfe. Der anscheinend betrogene Bräutigam zieht sich nicht wütend und in seiner Ehre gekränkt zurück, sondern die beiden bewältigen diese fast unglaubliche Situation gemeinsam.

Doch die Gefährdung geht weiter. Es gibt keinen sicheren Ort, kein gemachtes Nest, an dem dieses Kind zur Welt kommen kann. Die Geburt kündigt sich zur Unzeit an, muss auf der Durchreise vor den Toren der Stadt in einem Viehstall zuwege gebracht werden. Fremde, arme Schlucker, die auf den Feldern rings herum lagern, sind die ersten scheuen Gratulanten. Ein schmutziger Futtertrog ist das frühe provisorische Bett. Und damit ist das Drama nicht zu Ende. Das Neugeborene gerät ins Visier der Mächtigen. Die kleine Familie muss die Flucht ergreifen, weil ein misstrauischer König dem Kind nach dem Leben trachtet. Der frischgebackene Pflegevater muss sich noch einmal auf seine Träume verlassen, um die ihm anvertraute Familie zu retten. Und die junge Mutter braucht sich nach Ruhe und Sicherheit erst gar nicht zu sehnen. Sie ziehen in ein fremdes Land und müssen dort sehen, wie sie zurechtkommen. All das ist wahrlich kein einfacher Anfang für eine Familiengeschichte.

Aber was liegt darin für ein Trost! Sind nicht fast alle Familienschicksale dieser Menschheitsgeschichte gefährdet: von Hunger, Krieg und Armut, von Gewalt, Zwistigkeiten oder Missverständnissen? Sind nicht alle Beziehungen an irgendeiner Stelle ihrer Geschichte bedroht? Auf alle Fälle sind sie sehr zerbrechliche Gebilde. Wer immer mit der heiligen Familie eine heile Familie malt und idealisiert, hat die Dramatik des Lebens – und auch die des Glaubens nicht verstanden. Natürlich gibt es glückselige Momente und unendlich viel Liebe zwischen den Menschen. Und zwischen den Menschen und Gott. Gott sei Dank, möchte man ausrufen! Und jeder einzelne davon sollte festgehalten werden und ewig währen. Aber das Leben spielt oft so ganz anders, als man denkt und es sich wünscht. Beziehungen zerbrechen, der Glaube wird porös.

Weihnachten passiert immer wieder

Was für ein großer Trost, dass Gott in seiner eigenen Geschichte mit uns Menschen genau diese Wirklichkeit nicht außen vorlässt. Er kommt nicht nur in unsere Zeit und unser Menschsein, er kommt auch in unsere Armseligkeit, in all das Elend und die Gefährdungen unseres Zusammenseins. Er kommt auch in all unsere Zweifel. Er hat gar nicht die Illusion, dass wir alle die perfekten Gläubigen sind. Das interessiert ihn nicht. Er möchte einen Zugang zu unserem tiefsten, ehrlichsten und verletzlichsten Herzen. Er möchte geliebt werden. Das genügt ihm.

Genau diese unglaublich echte, unverstellte Zuwendung Gottes wollte der heilige Franziskus zum Greifen nahe holen. Er wollte sozusagen mit seinen Händen nach den Geheimnissen des Himmels fragen. Und die achtjährige Pilgerin hat es ihm achthundert Jahre später gleichgetan. Die Botschaft der beiden: Gott lässt sich anfassen von uns, damit wir von ihm berührt werden. Er hat keine Scheu in unsere kleingläubigen, manchmal so mut- und fantasielosen Herzen hinein geboren zu werden, mitten in unsere Scherereien und Beziehungsdramen, in unsere Ausweglosigkeit und Zukunftsangst. Und dabei spielt es für ihn keine Rolle, wann diese Vergegenwärtigung geschieht. Weihnachten passiert hoffentlich immer wieder in unserem Leben – und sei es im Spätsommer, dann, wenn man die allerersten Eicheln finden kann.