Eine alte Tugend neu entdeckt

Frau hält kleine Blume
Bild: unsplash.com, Dayne Topkin

Am 4. Oktober ist Franziskustag: der Gedenktag des heiligen Franz von Assisi und Namenstag von Papst Franziskus. Ersterer lebte vor etwa 800 Jahren und beeindruckte mit seiner selbst gewählten Armut und seiner radikalen Lehre von der Gleichheit aller Geschöpfe Gottes. Letzterer macht als Papst mit vielen ungewöhnlichen Aktionen von sich reden:

Direkt nach seiner Wahl weigerte er sich, die traditionell prächtigen Gewänder eines Papstes anzulegen und trat in schlichter weißer Soutane mit einem Brustkreuz aus Blech vors Volk. Später bestand er darauf, in einem einfachen Zimmer im vatikanischen Gästehaus wohnen zu bleiben, anstatt die herrschaftlichen Gemächer im päpstlichen Palast zu beziehen. Seine erste Auslandsreise ging zu Flüchtlingen nach Lampedusa. Am Gründonnerstag wusch er Strafgefangenen Jugendlichen im Gefängnis die Füße. Bei Gottesdiensten und Audienzen durchbricht er gerne das Protokoll, spricht mit den anwesenden Menschen, umarmt, küsst und segnet sie.

Vorbild auch für viele Nichtkatholiken: Papst Franziskus als Postkartenmotiv in Rom Bild: fotolia.de, Paolo Cipriani

Ähnlichkeiten zum Wirken des heiligen Franz sind bei Papst Franziskus natürlich qua Namenswahl erwünscht – darüber hinaus macht er aber noch mit einem ganz besonderen Begriff von sich reden: dem der Barmherzigkeit. Von Dezember 2015 bis November 2016 rief Papst Franziskus zum „Heiligen Jahr der Barmherzigkeit“ aus. Die Barmherzigkeit sollte während des Heiligen Jahres wieder neu in das Bewusstsein der Gläubigen gerückt werden.

Buchtipp

Der Mann der Armut
Franziskus – ein Name wird Programm
von Martina Kreidler-Kos und Niklaus Kuster, Verlag Herder 2014,
ISBN 978-3-451-33481-8

Die Welt ein wenig gerechter machen

Barmherzigkeit – ein Wort, das fast völlig aus dem Alltagsgebrauch verschwunden war. Wird es doch verwendet, so hat es meist einen negativen Beigeschmack; klingt nach Almosen, Erbarmen, Mitleid. Papst Franziskus hat es nun in nur wenigen Monaten geschafft, dem Wort neues Leben einzuhauchen: „Er ist sich nicht zu schade, mit den Kleinsten und Geringsten in Kontakt zu treten und ihnen seine volle Aufmerksamkeit zu schenken. Franziskus‘ Barmherzigkeit ist dabei nie gönnerhaft, von oben herab, sondern von echtem Interesse geprägt“, sagt Martina Kreidler-Kos. Sie ist Theologin im Bistum Osnabrück und Autorin (siehe Kasten rechts). Franziskus orientiert sich am biblischen Jesus-Wort: „Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist.“ (Lukas 6,36) In seinem apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ betont er, dass Barmherzigkeit nicht nur in Gedanken und Gesinnungen bestehen könne, sondern sich in konkreten Gesten, Handlungen und Taten zeigen müsse. Nicht nur reden, sondern tun, lautet die Devise! Denn, so Franziskus, „ein wenig Barmherzigkeit macht die Welt weniger kalt und viel gerechter“.

Es gibt viele Werke der Barmherzigkeit

Barmherzigkeit hat eine lange Tradition in der katholischen Glaubenslehre und -Praxis, denn sie ist von zentraler Bedeutung in der Botschaft Jesu: die Gleichnisse vom verlorenen Sohn und von der ehebrecherischen Frau, die Bergpredigt, die Erzählung vom barmherzigen Samariter – sie alle machen deutlich, dass es keinem Menschen zusteht, auf andere herab zu blicken oder sie zu verurteilen, sondern dass es vielmehr christliche Pflicht ist, zu helfen und zu verzeihen. Manifestiert hat sich dies über die Jahrhunderte in den „Werken der Barmherzigkeit“, die nach christlichem Glauben zu einem guten Leben dazu gehören: Hungrige speisen, Durstigen zu Trinken geben, Fremde beherbergen, Nackte kleiden, Kranke pflegen, Gefangene besuchen, Tote bestatten, Unwissende belehren, Zweifelnden raten, Trauernde trösten, Sünder zurechtweisen, Bösen verzeihen, Unrecht ertragen, für Lebende und Tote beten – es gibt viel, was man tun kann, um die Welt ein wenig besser zu machen.

zwei Menschen trinken Tee
Sich Zeit nehmen und aufmerksam sein für die Bedürfnisse anderer – auch das ist Barmherzigkeit. Bild: unsplash.com, Matthew Henry

Besonderer Knackpunkt dabei: für Barmherzige Taten gibt es keinen Lohn – eine schwierige Vorstellung in unserer heutigen Zeit, in der fast alles Handeln auf Kosten-Nutzen-Rechnungen ausgelegt ist. Aber Barmherzigkeit wird ja erst gerade dadurch so großartig, dass man keine Gegenleistung dafür erwartet! Die gute Nachricht: Wer sich an den christlichen Werten orientieren will, der muss nicht gleich seinen gesamten Besitz verschenken und damit so radikal werden wie der heilige Franz von Assisi. „Wenn jeder in seiner Nähe anfängt, im Kleinen; wenn sich jeder nur an einer Stelle verändert oder etwas gibt oder etwas tut, dann wird schon eine Lawine losgetreten“, ist sich Martina Kreidler-Kos sicher.

Jeder kann klein anfangen

Für sie bedeutet Barmherzigkeit vor allem Wahrnehmung: Menschen Aufmerksamkeit zu schenken und sich solidarisch zu zeigen, das sei der Geist der Barmherzigkeit. Kardinal Walter Kasper, dessen Buch „Barmherzigkeit. Grundbegriff des Evangeliums – Schlüssel christlichen Lebens“ der Papst selbst bei seinem allerersten Angelusgebet empfahl, formuliert es ganz plastisch: „Als junger Priester war ich oft in Krankenhäusern und habe gemerkt, wie wichtig es ist, sich Zeit für andere zu nehmen. Im Sozialwesen heute ist genau vorgeschrieben, wie lange es dauern darf, den Alten oder Kranken sauber und satt zu machen. Aber was ist mit Zuwendung? Zeit haben ist ein großes Werk der Barmherzigkeit in unserer aufgeregten Welt.“

Auch Papst Franziskus rief vor einiger Zeit beim Angelusgebet zu einer praktischen Übung in Barmherzigkeit auf: „Jeder denke an einen Menschen, mit dem wir nicht gut stehen, auf den wir zornig sind, den wir nicht gern haben. Denken wir an jenen Menschen und beten wir in Stille für diese Person und werden wir barmherzig gegenüber diesem Menschen.“
Ein letzter Tipp stammt aus der Bibel. Er macht klar: Nicht jeder muss mit seinen Worten und Taten direkt die ganze Welt retten. Aber jeder kann anfangen, und sei der Anfang noch so klein: „Wer Barmherzigkeit übt, der tue es freudig.“ (Römer 12,8)