Georgische Schwäne im Schnee

Wissen Sie, was im Moment in Georgien los ist, dem 3,7-Millionen-Einwohner-Staat im Südkaukasus am Ostufer des Schwarzen Meers? Nein? Gott, sei Dank, dann bin ich nicht allein mit meiner Unkenntnis. Aber vielleicht ändert sich das bald* …
Auf dem Programm des Abends steht Das Gespenst von Canterville. Oscar Wilde hat den alten Sir John lebendig gemacht. Wir haben einen „Literarisch-theologischen Gesprächskreis“ in unserer kleinen Stadt. Da lesen wir solche Weltliteratur und Jan Weilers Geschichte vom Markisenmann, Platon und die Bibel, lassen uns von Mouhanad Khorchide auf den Jakobsweg aus muslimischer Perspektive mitnehmen oder hören gemeinsam die Songs von Mark Knopfler, der vom Ballyhoo Girl auf dem Jahrmarkt seiner Kindheit erzählt.
Papst Franziskus hat in seinem wunderbaren Brief über die Literatur geschrieben, dass die Auswahl unseres eigenen Lesestoffs viel darüber aussagt, „was sich jeder von uns vom Leben wünscht“. Und so ist es. Unsere literarischen Gespräche landen schnell bei Gott und der Welt und unseren Träumen und Sehnsüchten.
Über den Autor
Dominik Blum ist Pfarrbeauftragter in der katholischen Pfarreiengemeinschaft im Artland. Zusammen mit seiner Frau hat er vier erwachsene Kinder. Die besten Einfälle, wenn es um Gott und die Welt geht, kommen ihm im Wald mit seinem Labrador Oscar oder bei Whiskey und Rockmusik.
Gerade wollen wir Sir John aus seiner Kammer im Schloss lassen, da steht eine Frau vor der Tür des Hermann-Bonnus-Geburtshauses in Quakenbrück, das sich selbst als „Friedensort“ versteht. Etwas zögerlich öffnet sie – ob das hier ein Museum sei, möchte sie wissen. Ja, richtig, heute aber lesen wir gemeinsam, erklären wir ihr. Ob sie dabeibleiben darf? Wir freuen uns über den unerwarteten Gast. Und die uns noch fremde, freundliche Dame erzählt von ihrer Heimat in Georgien, der Arbeit als Ärztin in unserem Krankenhaus, ihrer allabendlichen Einsamkeit in unserer ihr noch fremden Kleinstadt. Und dass sie Trost findet in der Literatur.
Das berühmte, erlösende Gedicht aus dem Gespenst von Canterville – „(…) Wenn die dürre Mandel unter Blüten sich senkt, / Ein unschuldiges Kind seine Tränen verschenkt, / Dann wird dies Haus wieder ruhig und still, / und Friede kehrt ein auf Schloss Canterville“ – hören wir an diesem Abend nicht nur auf Englisch und Deutsch, sondern auch auf Georgisch. Und weil das so schön klingt, vereinbaren wir, uns beim nächsten Treffen mit Schwäne im Schnee von Micho Mossulischwili zu beschäftigen. Dazu gibt es sogar georgischen Wein. Und es sollen noch mehr georgische Literaturfreunde dazukommen.
Durch die Lektüre eines literarischen Textes werden wir in die Lage versetzt, „durch die Augen anderer zu sehen“ (C.S. Lewis) und erlangen so einen Blickwinkel, der unsere Menschlichkeit weitet.
Papst Franziskus
Später am Abend lese ich noch vom Abchasien-Konflikt und von der Debatte darüber, ob Georgien als sicheres Herkunftsland gelten kann oder nicht. Und ich suche nach georgischer Literatur in deutscher Übersetzung. Georgien kann mir nicht mehr egal sein. Ich kenne jetzt Leute von dort, die bei uns leben.
Zum Weiterlesen:
*Zur politischen Situation in Georgien: https://www.proasyl.de/news/wer-georgien-als-sicher-bezeichnet-delegitimiert-unsere-kaempfe-fuer-die-demokratie/
Der Brief von Papst Franziskus „Über die Bedeutung der Literatur in der Bildung“: https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2024-08/papst-franziskus-brief-lekture-literatur-ausbildung-bedeutung-dt.html
Georgische Literatur auf Deutsch: https://www.perlentaucher.de/buchKSL/buecher-aus-und-ueber-georgien.html