Melanie Adler freut sich: Deutschland ist Weltmeister! Erst ein paar Tage ist das Endspiel her, heute trägt sie ein Fußballtrikot mit vier Sternen: „Der vierte ist allerdings nur aufgeklebt, der geht immer wieder ab“, sagt sie und grinst: „Aber Hauptsache Weltmeister!“ Schlank und braun gebrannt sitzt sie am Tisch, erzählt freundlich und offen, ein wenig aufgeregt. Nicht zu sehen ist: unter ihrem Fußballtrikot trägt sie einen fünften Stern: in ausgefransten hellrosa Linien ziehen sich die Narben eines mit Rasierklingen in die Haut geritzten Pentagrams quer über Bauch und Brüste – eine schlecht verheilte Erinnerung an ihre letzte Nacht im Kreis einer satanistischen Sekte.
In Wahrheit heißt Melanie Adler anders, aber sie will ihre Identität schützen, denn sie hat Angst: Angst vor der Sekte, von der sie sich zu lösen versucht und die sie immer wieder findet und zurückholt. Denn Ausstiegswillige werden verfolgt, unter Druck gesetzt, bestraft, manchmal in den Tod getrieben.
Melanie ist eine von ungezählten weil statistisch nicht erfassten Frauen, die in eine satanistische Sekte hineingeboren wurden – an einem ganz normalen Ort, irgendwo in Norddeutschland. Ihre Eltern sind aktive Mitglieder und haben sie und ihre Geschwister seit frühester Kindheit in ihre Praktiken mit einbezogen. Nach außen hin wuchs sie behütet in einer gut bürgerlichen Familie auf, denn außerhalb des Zirkels weiß niemand, was hinter der schönen Fassade passiert: okkulte Rituale, physische, sexuelle und psychische Übergriffe, Jahre und Jahrzehnte lang, Tag für Tag.
Hilfe für Betroffene
Wer selbst von ritueller Gewalt betroffen ist oder sich weiter zum Thema beraten lassen will, findet auf dieser Seite weitere Informationen und Kontaktpersonen: nina-info.de/berta
Fachleute sprechen in diesem Zusammenhang von „Ritueller Gewalt“ – einer planmäßig und systematisch ausgeübten körperlichen und psychischen Gewalt im Kontext bestimmter Ideologien oder Weltanschauungen. „Durch die pseudoreligiösen und menschenfeindlichen Rituale der Satanisten werden die Mitglieder der Sekte noch mehr gebunden – Kinder wie Erwachsene“, sagt Alfons Strodt. Er ist Domkapitular im Bistum Osnabrück und betreut seit über 35 Jahren seelsorglich Sektenmitglieder, die aussteigen wollen. „Im Grunde ist es dabei nachrangig, ob die Gruppe wirklich an Satan glaubt oder ob der Kult nur zum Zweck der Täuschung und Einschüchterung der Mitglieder inszeniert wird“, erläutert er weiter. Ziel der Rituale sei es in jedem Fall, die Beteiligten zu verwirren und zu verängstigten, um sie für die Sekte gefügig zu machen. Folge der rituellen Gewalt seien häufig extreme Wahrnehmungs- und Persönlichkeitsstörungen.
In einer Collage hat Melanie dargestellt, was Leben in einer satanistischen Sekte bedeutet. Bild: privat
Melanie Adler redet heute in der Wir-Form von sich, denn durch unzählige traumatische Ereignisse in ihrer Kindheit und Jugend hat sich ihre Persönlichkeit aufgespalten – ein Überlebensinstinkt, denn nur so konnte sie das ihr zugefügte Leid ertragen und die Dinge, die sie gezwungen wurde, anderen anzutun. „Man nennt diesen Prozess Dissoziation“, erläutert Brigitte Hahn. Die pensionierte Leiterin der Fachstelle für Sekten und Weltanschauungsfragen im Bischöflichen Generalvikariat Münster arbeitet seit Jahren mit Opfern ritueller Gewalt. „Vereinfacht gesagt spaltet sich eine Person in mehrere Personen auf, wenn sie die aktuelle Situation nicht mehr ertragen kann. Das Schlimme, was die eine Person erlebt, passiert dadurch nicht mehr ihr, sondern jemand anderem. Dissoziationen werden durch schwere Traumata ausgelöst, zum Beispiel durch Todesangst. Aus Berichten von Opfern ist bekannt, dass diese Persönlichkeitsspaltungen in satanischen Sekten gezielt herbeigeführt werden, um Menschen auf bestimmte Verhaltensweisen zu konditionieren.“
Dass viele nichts davon wissen heißt nicht, dass es nicht geschieht
Nur wenig mehr ist über die Praktiken der Sekten bekannt, kaum etwas über ihre Hintergründe. Ein absolutes Schweigegebot gehört zu den wichtigsten Regeln in der Gruppe. Wer es bricht, wird schwer bestraft. „Als Kind wären wir nie auf die Idee gekommen, jemandem davon zu erzählen“, berichtet Melanie. „Wir hätten aber auch gar nicht gewusst, was wir hätten erzählen sollen“, fügt sie hinzu. Denn für sie war ihr Leben lange Zeit normal. Da Kontakte zur Außenwelt auf ein Minimum beschränkt wurden, kannte sie nichts anderes. „Außerdem waren es doch unsere Eltern, die das mit uns gemacht haben“, erinnert sie. „Da sagt man doch nichts als Kind, da denkt man doch: das ist schon richtig und muss so sein.“
Satanistische Rituale sind ein wesentlicher Bestandteil ritueller Gewalt. Bild: iStockphoto.com, Stopboxstudio
Jahrzehnte lang führte Melanie nach außen hin ein ganz normales Leben, wuchs auf und arbeitete rund 20 Jahre als Bankkauffrau – ein Beruf, den ihre Eltern für sie ausgesucht hatten, denn die Sekte ist immer interessiert an Schlüsselpositionen, an Wissen und Macht über andere. Schon in der Schulzeit wurde Melanie auf Höchstleistungen gedrillt – das kann sie bis heute nicht ablegen: „Inzwischen arbeiten wir in mehreren Mini-Jobs, wir können alles mögliche, denn wenn wir etwas anfangen, geben wir immer 120 Prozent.“ Erst mit 40 Jahren, als sie wegen Magersucht in eine Klinik eingeliefert wurde, kam sie mit einer anderen Welt als der ihren in Berührung. Wie viele Betroffene hat sie lange Zeit in psychiatrischer und psychologischer Behandlung verbracht. Fehldiagnosen und Rückschläge markieren diesen Weg. Es hat Jahre gedauert, bis ihre dissoziative Störung erkannt wurde, und erst damit setzte auch für sie ein Prozess des Hinterfragens ein: „Wir haben gemerkt: Das ist nicht normal, was uns passiert und was wir machen. Andere leben ein ganz anderes Leben.“
Aus der Sekte auszusteigen ist fast unmöglich
Alfons Strodt kennt solche Prozesse aus seinen Begegnungen mit Opfern. Er weiß: vor dem Ausstieg aus der Sekte müssen sich betroffene Frauen und Männer zunächst selbst bewusst werden, dass ihnen Leid geschieht: „Menschen, die im Satanismus gefangen sind, haben das Gefühl für ihre eigene Würde verloren. Sie wissen nicht mehr, wer sie selbst sind. Sie fühlen sich als Dreck und werden auch so behandelt. Sie haben keine Ahnung mehr, dass sie kostbar sind und ein Recht auf Leben und auf Liebe haben.“ Gerade deswegen sieht er sich als Seelsorger in der Pflicht: „Das Evangelium ist doch die Option für die Armen! Für sie müssen wir da sein! Mein Bestreben ist, dass bei diesen furchtbar gequälten und missbrauchten Menschen das Vertrauen wieder größer wird als die Angst – ein Prozess, der sich über einen langen Zeitraum hinziehen kann.“
Der Ausstieg aus einer satanistischen Sekte ist ein langer, schwerer Weg. Bild: fotolia.de, Baharlou
Melanie versucht inzwischen seit gut drei Jahren, sich von der Gruppe zu lösen. Doch es gibt immer wieder Rückschläge: „In uns sind Personen, die immer noch zurück wollen“, sagt sie. „Manchmal setzen sie sich durch.“ An bestimmten Daten beispielsweise, an denen rituelle Feiertage stattfinden, oder wenn ein Sektenmitglied es schafft, sie zu beeinflussen. Durch die vom Kindesalter an eingeprägten Riten genügt teilweise ein Wort, ein Symbol oder ein bestimmter Ton und Melanie ist wie programmiert – nicht mehr sie selbst, sondern eine ihrer vielen Innenpersonen, die der Sekte gegenüber loyal sind. Hinzu kommt für Melanie die Schwierigkeit, sich ein eigenes Leben aufbauen zu müssen – ohne die klaren Regeln der Sekte und den Zwang zu absolutem Gehorsam: „Oft ist unsere neue Freiheit schwer zu ertragen, denn das bedeutet auch: selbst Entscheidungen treffen zu müssen und bewusst unangenehme Dinge tun zu müssen, die man früher verdrängt hat.“
„Erschreckend, unvorstellbar, ungeheuerlich“
Doch auch wenn es schwer ist – Melanie Adler will raus und sie will reden. „Die Öffentlichkeit soll aufmerksam gemacht werden und sensibilisiert dafür, dass es rituelle Gewalt gibt – überall, vielleicht sogar nebenan. Damit andere Kinder nicht erleiden müssen, was wir erlebt haben.“
Heute wünscht sie sich, einige Menschen hätten in ihrer Kindheit und Jugend besser hingesehen, nachgefragt und zugehört. Wenn sie in der Schule lange gefehlt hat oder unerklärliche Schmerzen hatte zum Beispiel. „Viele können sich gar nicht vorstellen, dass es so etwas gibt – weil es so schlimm ist, dass man es einfach nicht glauben kann“, berichtet Melanie von ihren Erfahrungen.
Infos in Kürze
Meist sind Kinder und Frauen Opfer ritueller Gewalt in Sekten, aber auch Männer sind betroffen. Häufig werden Mitglieder schon als Kinder von Verwandten in die Sekte eingeführt und müssen hier schlimmste körperliche und seelische Misshandlungen ertragen. Aber nicht alle werden in den Kult hineingeboren. Einige werden auch von Außen herangezogen: Kinder werden ohne Wissen ihrer Eltern gequält, zu Satanisten gemacht und durch Drohungen zum Schweigen gebracht. Manche Opfer kommen auch aus zerrütteten Verhältnissen, wo niemand sie vermisst; teilweise können sie in die Sekte gezwungen werden, weil sie zuvor in eine Falle gelockt wurden und sich erpressbar gemacht haben. Grundsätzlich gilt: die hier beschriebenen Satanisten gibt es in allen gesellschaftlichen Schichten. Sie sind nicht gleichzusetzen mit der schwarzen bzw. Gothic-Szene – im Gegenteil: meist sind diese Satanisten nicht auf den ersten Blick zu erkennen und leben nach außen hin eher unauffällig.
„So etwas“ – das sind schlimmste körperliche und seelische Misshandlungen, pädophile und nekrophile sexuelle Praktiken und Sodomie, gewalttätige und dämonische Rituale, schwarze Messen, Tier- und sogar Menschenopfer. „Die berichteten Taten sind erschreckend, unvorstellbar, ungeheuerlich und unterlaufen unser christlich-demokratisches Wertesystem“, sagt Brigitte Hahn. „Unser Grundsatz ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar‘ wird von den satanistischen Sekten verhöhnt. Das ist organisierte Kriminalität in schlimmster Form!“
Die Bistümer Osnabrück, Münster und Essen haben deswegen 2011 den „Arbeitskreis Rituelle Gewalt“ gegründet und es sich zur Aufgabe gemacht, hilfesuchenden Aussteigerinnen und Aussteigern Unterstützung anzubieten und die Öffentlichkeit für dieses Thema zu sensibilisieren. Gerade ist ein Buch des Arbeitskreises erschienen, in dem Opfer und deren Angehörige zu Wort kommen, aber auch Psychologen und Seelsorger, die von ihrer Arbeit mit traumatisierten Sektenmitgliedern berichten. „Solche Vorkommnisse können nur aufgeklärt werden, wenn Menschen Auffälligkeiten im Verhalten anderer wahrnehmen, wenn sie hinterfragen und Glauben schenken und wenn rechtzeitig Polizei und Therapeuten eingeschaltet werden“, sagt Alfons Strodt. „Aus meiner Jahrzehnte langen Erfahrung mit Satanisten bin ich überzeugt, dass es regelrechte Netzwerke gibt, die regional, bundesweit und sogar international operieren – mit Schnittmengen zu Rockerbanden, Prostitution, Drogen- und Menschenhandel. Das Buch soll helfen, sich über dieses Thema zu informieren, um bei Opfern Anzeichen zu erkennen und entsprechend handeln zu können.“