Gedanken zur Fastenzeit: Die Tugend Großherzigkeit
Seit Aschermittwoch ist es wieder so weit: der Verzicht – auf Süßigkeiten, aufs Rauchen, auf Fernsehen oder Internet – wird zu einer viel diskutierten Tugend. So wie Jesus 40 Tage in der Wüste fastete, so verzichten viele in der Zeit vor Ostern auf das, was ihnen wichtig ist – um sich frei zu machen, für Gedanken an und über Gott und um mit sich selbst ins Reine zu kommen.
Eine gute Gelegenheit, sich auch mal über andere Tugenden als das Fasten Gedanken zu machen! Tugend – das ist natürlich ein schwieriger Begriff. Tugendhaft, was bedeutet das überhaupt?
Es gibt bürgerliche Tugenden: zum Beispiel Sparsamkeit, Fleiß, Pünktlichkeit. Es gibt Rittertugenden wie Mut und Tapferkeit. Es gibt die Kardinalstugenden Klugheit, Gerechtigkeit und Mäßigung. Außerdem weitere christliche Tugenden wie Barmherzigkeit und Friedfertigkeit, die Jesus in der Bergpredigt lehrt. Und nicht zuletzt sind da noch die sogenannten „Göttlichen Tugenden“: Glaube (fides), Hoffnung (spes) und Liebe (caritas). (1. Korinther 13, 13) Dass gerade die letzte dieser drei erstrebenswert ist, ist wohl bei den meisten Menschen unbestritten. Doch wie sieht es mit anderen Tugenden aus? Sind sie heute eher unzeitgemäße Werte oder noch immer aktuell?
Das fragt sich auch Pater Franz Richardt, geistlicher Direktor im Haus Ohrbeck. Er macht sich während der Fastenzeit jede Woche Gedanken zu Aufrichtigkeit, Treue, Höflichkeit und Co.
Großherzigkeit
In der Fußgängerzone: Ein Kind ist mit seiner Mutter unterwegs und sieht einen Bettler. Im Vorbeigehen höre ich, wie das Kind sagt: Mama, darf ich ihm etwas von meinem Taschengeld geben? Und es geht hin und legt eine Münze in die Dose vor dem Bettler.
Großherzigkeit ist die Tugend des Schenkens, ist die freiwillige Hergabe von etwas, was mir gehört, was ich anderen gebe, ohne dass die anderen ein Recht darauf hätten. Ein Recht darauf haben – das wäre Gerechtigkeit. Großherzig sein heißt, „einfach so“ zu handeln, sich frei zu wissen, gut handeln zu können, und diese Freiheit zu wollen und in die Tat umzusetzen.
Wenn jemand für Misereor eine großzügige Spende gibt, ist er dazu nicht verpflichtet, aber seine Freigiebigkeit zeigt seine innere Haltung: Er lässt sich von der Not der anderen berühren und handelt aus diesem Impuls. Er kann etwas geben, und er tut es auch.
Der Philosoph René Descartes schreibt: „Jene, die auf diese Weise großherzig sind, verspüren die natürliche Neigung, Großes zu tun […] Und weil sie nichts für so hoch halten, als den anderen Menschen Gutes zu tun und den Eigennutz zu verachten, sind sie infolgedessen vollkommen höflich, freundlich und hilfsbereit zu jedermann. Und gleichzeitig sind sie ganz und gar Herr ihrer Leidenschaften, insonderheit der Begierden, der Eifersucht, des Neids.“
Das klingt vielleicht ein wenig hoch und lässt an einen „Gutmenschen“ denken, der in der Härte der Realität nicht ganz zu Hause ist. Aber es ist doch etwas Wahres und Schönes in dieser Beschreibung. Großherzigkeit ist das Gegenteil von Egoismus, von Kleinlichkeit, von „Kniepigkeit“, wie der Volksmund sagt. Der großzügige Mensch ist nicht besessen von der Angst um sein kleines Ego.
In der Großherzigkeit kommt es nicht auf die Größe der Gabe, sondern auf das Herz an. Der Evangelist Markus erzählt uns eine kleine Begebenheit: Jesus steht vor dem Tempel und sieht, wie viele Reiche kommen und Geld in den Opferkasten werfen. Es kommt auch eine arme Witwe und wirft zwei kleine Münzen hinein. Jesus kommentiert: „Diese arme Witwe hat mehr in den Opferkasten getan als alle anderen.“
Fordern kann man die Großherzigkeit nicht. Gerechtigkeit kann ich fordern. Und es wäre viel, wenn es in der Welt gerecht oder gerechter zuginge. Großherzigkeit mag gesellschaftlich gesehen weniger notwendig sein als die Gerechtigkeit, aber ohne Großherzigkeit ist die Welt ärmer, das Leben trauriger, das Miteinander enger, die Stimmung bedrückter, der Markt raffgieriger, das Kalkulieren widerlicher. Mit Großherzigkeit lebt es sich menschlicher.