„Wir haben keine andre Zeit als diese“
„Biodeutsch“ ist – Gott sei Dank – das Unwort des Jahres 2024. Ist es dann nicht ein Kompliment, wenn Daniel Kehlmann seine Schriftstellerkollegin Mascha Kaléko die „undeutscheste deutsche Dichterin“ nennt?
In ihren Gedichten, so schreibt Kehlmann im Vorwort seiner gerade erschienenen bemerkenswerten Auswahl von Kaléko-Texten, „hielten Traurigkeit und Ironie einander die Waage“. Oft mit Erich Kästner verglichen, beginnt auch die jüdische, deutschsprachige Lyrikerin im Berlin der Zwischenkriegsjahre erste Texte zu veröffentlichen. „Ihr Ton traf genau das Gefühl der Weimarer Jahre, (…) sie schrieb von Beziehungen und Liebschaften, vom flüchtigen Zusammenkommen und vom schnellen Abschied und immer wieder von der unüberwindlichen Fremdheit derer, die einander nahezustehen glauben“, so Kehlmann weiter.
Mascha Kaléko, geboren 1907 im galizischen Chrzanów, starb vor 50 Jahren, am 21. Januar 1975, in Zürich. Die Fremdheit, von der Kehlmann spricht, prägte wohl auch Kalékos Verhältnis zu Deutschland: „Auch meine Lieder, sie waren einst / Im Munde des Volkes lebendig. / Doch wurden das Lied und der Sänger verbannt. / – Warn beide nicht »bodenständig«“, beklagt die Emigrantin bitter 1956, im Jahr ihrer ersten Deutschlandreise nach dem Krieg.
Über den Autor
Dominik Blum ist Pfarrbeauftragter in der katholischen Pfarreiengemeinschaft im Artland. Zusammen mit seiner Frau hat er vier erwachsene Kinder. Die besten Einfälle, wenn es um Gott und die Welt geht, kommen ihm im Wald mit seinem Labrador Oscar oder bei Whiskey und Rockmusik.
„Wir haben keine andre Zeit als diese / Die sich uns neigt mit karg gefüllter Schale“, schrieb sie in ihrem Gedicht In dieser Zeit. Ehrlich gesagt: Ich höre auch lieber ihre schnoddrig-melancholischen Berliner Verse über Kritzeleien auf einem Caféhaus-Tisch oder den Schulausflug ins Waldschlösschen. Aber wenn vor der Bundestagswahl im nächsten Monat von „Windmühlen der Schande“, „Remigration“ und „Pushbacks an den Grenzen“ schwadroniert wird, müssen wir Mascha Kaléko wieder als alltäglich-politische Lyrikerin lesen.
Wo die beiden großen Kirchen mit ihrer Initiative „Für alle. Mit Herz und Verstand“ zur Bundestagswahl 2025 für Menschenwürde, Nächstenliebe und Zusammenhalt werben, lohnt es sich, Mascha Kalékos Gebet zu lesen:
„Es wohnen drei in meinem Haus –
Das Ich, das Mich das Mein.
Und will von draußen wer herein,
So stoßen Ich und Mich und Mein
Ihn grob zur Tür hinaus.
Stockfinster ist es in dem Haus,
Trüb flackert Kerzenschein.
– Herr: lass dein Sonnenlicht herein!
Dann geht dem Ich, dem Mich, dem Mein
Das fahle Flämmchen aus.„
Das ist mehr als eine Wahlempfehlung.
Weitere Infos
Wer sich weiter informieren will – hier gibt es mehr zu Mascha Kaléko: https://www.maschakaleko.com