Zeitansage mal anders

Uhren
Bild: unsplash.com, Jon Tyson

In jener Zeit, als Jesus die vielen Menschen sah, die ihm folgten, stieg er auf den Berg. Er setzte sich und seine Jünger traten zu ihm. Und er öffnete seinen Mund, er lehrte sie und sprach: Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden. Selig die Sanftmütigen; denn sie werden das Land erben. Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden. Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden. Selig, die rein sind im Herzen; denn sie werden Gott schauen. Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Kinder Gottes genannt werden. Selig, die verfolgt werden um der Gerechtigkeit willen; denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn man euch schmäht und verfolgt und alles Böse über euch redet um meinetwillen. Freut euch und jubelt: Denn euer Lohn wird groß sein im Himmel.

Matthäus 5,1-12a

„Beim nächsten Ton ist es soundsoviel Uhr und soundsoviel Minuten. Piep!“ Als Kind war ich fasziniert vom Zeitansagedienst der Bundespost. Von unserem – damals noch grauen Telefon mit Wahlscheibe – habe ich immer wieder diesen Dienst angerufen. Zeitansagen sind heute nicht mehr so notwendig, da überall digitale Uhren blinken und damit die aktuelle Uhrzeit sowieso dauernd präsent ist.

Eine Zeitansage ganz anderer Art sind die Seligpreisungen der Bergpredigt. Über sie ist schon viel nachgedacht, geschrieben und auch gestritten worden. Kann man so leben? Sind das Regeln, nach welchen man Politik, auch Friedenspolitik, gestalten kann? Ist das nicht eher eine Utopie, statt ein christlicher Realismus?

Das Bibelfenster

Hier kommentieren jede Woche Menschen aus dem Bistum Osnabrück eine Bibelstelle aus einer der aktuellen Sonntagslesungen – pointiert, modern und vor allem ganz persönlich.

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Nun hat der Herr Matthäus diesen Text recht prominent an den Beginn des öffentlichen Lebens seines Jesus gestellt. Und Herr Matthäus wollte damit seinen Mitchristen wohl etwas Wichtiges mitteilen. Diese waren syrische Christen, die mit den Traditionen und Schriften des Judentums vertraut waren. So lässt Matthäus seinen Jesus als neuen Mose auftreten. Mose hat auf dem Berg Sinai dem Volk die Zehn Gebote vermittelt. Jesus gibt nun dem neuen Israel, der Kirche, ihr eigenes inneres Gesetz. Und wie die Zehn Gebote damit zu tun haben, dass Gott sich dem Volk Israel als der Befreier gezeigt hat, so ist es auch mit der Bergpredigt. Sie erzählt, wie Gott in Jesus die neue Freiheit schafft – und daraus folgt alles Weitere.

Der mittelalterliche Theologe Thomas von Aquin soll einmal formuliert haben, dass Gott mehr ein Geschehen, denn eine Person sei. Auf die Seligpreisungen der Bergpredigt angewandt, könnte man somit ableiten, dass sie keine Handlungsanweisungen im strengen Sinne sind, sondern so etwas wie ein Charakterbild Gottes zeichnen. Der Abba des Jesus von Nazaret ist somit ein Gott,

  • der die innere Armut des Menschen aushält und die äußere Armut solidarisch mitträgt
  • der die Traurigkeit des Menschen versteht und dem die Trauer über den Tod geliebter Menschen nicht egal ist
  • der solidarisch ist mit allen Opfern physischer und anderer Gewalt
  • der die sozialen und politischen Ungerechtigkeiten in der Welt nicht schweigend hinnimmt
  • der sich in seiner stetigen Zuwendung zum Menschen nicht beirren lässt
  • der sich in jedem Menschen einen Ort schafft, wo er wohnen und erfahren werden will
  • der die Versöhnung ermöglichen will: zwischen den Menschen, zwischen ihm und den Menschen und im Menschen selber
  • der weiter daran wirkt, dass diese Erde endlich ein Haus des Lebens und der Solidarität für alle Menschen wird
  • der sich in seinem einzigartigen Sohn Jesus als der Vater aller Menschen zeigt und sie dadurch ebenfalls zu Söhnen und Töchtern angenommen hat

Wie gesagt, das ist alles bloß eine Zeitansage. Auch die korrekte Uhrzeit auf Handy oder Armbanduhr kann nicht verhindern, dass ich mal zu spät komme. Die Zeitansage muss in mir etwas auslösen: Gelassenheit oder Eile. Nur so funktioniert es. Eine Zeitansage kann nur die Wirklichkeit beschreiben, mehr nicht. Ich bin es, der diese Wirklichkeit um mich herum mit meinem Alltag, meinen Träumen, meinem Leiden und meiner Sehnsucht zu meinem ganz eigenen Leben zusammenführen muss – über den nächsten Signalton hinaus. Piep!

Pastor Michael Lier