Aller Anfang ist offen

Natur und Himmel
Bild: unsplash.com, Glenn Carstens-Peters

„Du erneuerst das Angesicht der Erde. Ost und West in gemeinsamer Verantwortung für die Schöpfung“ – so lautet das Motto der diesjährigen Pfingstaktion von Renovabis, dem Osteuropa-Hilfswerk der katholischen Kirche in Deutschland. Was das heißt, wo die biblischen Quellen liegen, darüber schreibt hier Regina Wildgruber, Beauftragte für die Weltkirche im Bistum Osnabrück:

Schöpfungsverantwortung – dieses Wort ist unübersichtlich. Sechs Silben, zwei Nomina hintereinandergeschaltet, ein echtes Wortungetüm. Was würde Erik Flügge dazu sagen, der die Sprache der Kirche mitunter hart kritisiert? Und wie klingt dieser abstrakte Begriff in den Ohren der jungen Frauen und Männer, die sich bei Fridays for Future rund um den Globus engagieren, dabei aber der Kirche und ihrem Blick auf die Welt eher misstrauisch gegenüberstehen?

Schöpfungsverantwortung – was als Wort so ungelenk daher kommt, hat es in sich. Die sechs Silben enthalten nicht mehr und nicht weniger als Gott und die Welt. Für die Bibel ist die Welt Gottes gute Schöpfung, für die der Mensch Verantwortung trägt. So weit, so selbstverständlich?

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Naturerlebnisse gehören zu den faszinierendsten Erfahrungen, die Menschen machen. Ein klarer Wintertag in den Bergen, ein starkes Gewitter mit seiner beängstigenden Schönheit, das Meer mit seinem nie endenden Rhythmus der Wellen – die Liste könnte beliebig verlängert werden.

Natur fasziniert und berührt

Seit Menschengedenken haben solche Erfahrungen zu religiösen Deutungen inspiriert und tun es heute noch. In den Religionen der indigenen Völker Lateinamerikas ist die Natur ein beseelter Raum, in den der Mensch mit seinen Bedürfnissen und Begabungen eingefügt ist. Auch aus Europa sind viele Beispiele religiöser Naturdeutung bekannt. Flurkreuze, das Räuchern im Stall an Silvester oder die Kräuterbüschel zu Mariä Himmelfahrt spiegeln vielerorts bis heute das tiefe Bewusstsein, dass Wälder und Felder, Pflanzen und Tiere unverfügbare Geschenke Gottes sind. Aus dem orthodoxen Christentum haben der Tag der Schöpfung am 1. September oder der Ritus der Flusssegnung am Tag der Taufe Jesu auch in der christlichen Ökumene Kreise gezogen. In der säkularen Gegenwart des 21. Jahrhunderts entwickeln Menschen neue Formen einer naturgebundenen Spiritualität. Manches davon mutet esoterisch an, bewegt sich aber doch auf dem Boden einer geteilten menschlichen Erfahrung: Natur fasziniert und berührt.

zwei Bergsteiger auf einem Gipfel strecken die Arme zur Sonne
Gerade die Psalmen mit ihrer poetischen Sprache können ein Lied davon singen: die Schönheit der Natur!

Auch die Bibel kennt das dankbare Staunen über die Fülle und die Schönheit der Natur. Gerade die Psalmen mit ihrer poetischen Sprache können ein Lied davon singen: Sonne, Mond und Sterne, die Tiefen des Meeres, Feuer und Hagel, Schnee und Nebel, der Sturmwind, Berge und Hügel, Fruchtbäume und Zedern, wilde und zahme Tiere, Kriechtiere und Vögel – sie alle sind da, um Gott in einem großen Gesang zu loben – so beschreibt es Psalm 148 mit beinahe überschwänglichen Worten. Die Detailfreude bei der Beschreibung der verschiedenen Bewohnerinnen und Bewohner von Erde, Luft und Wasser scheint keine Grenzen zu kennen, wenn im großen Schöpfungshymnus Psalm 104 Steinbock und Storch, Klippdachs und Löwe, ja sogar das urzeitliche Fabelwesen Leviatan erwähnt werden. Und auch der Mensch hat seinen Platz in der langen Liste der Geschöpfe und tanzt in ihrem Reigen mit. „Du erneuerst das Angesicht der Erde“ – mit dem Vers, der in seiner lateinischen Fassung der Solidaritätsaktion Renovabis ihren Namen gegeben hat, deutet Psalm 104 die überbordende Fülle der Natur als Gottes Werk.

Schöpfung ohne Verantwortung ist für die Bibel nicht denkbar

Ohne die Beziehung zu Gott, so halten es auch die ersten Zeilen der Bibel im Buch Genesis fest, wäre da nicht Fülle und Überfluss, sondern Finsternis und Chaos. Erst durch die Anrede Gottes wird die Welt zur Schöpfung, zu einem guten Ort, der Raum bietet für die unüberschaubare Vielfalt der Geschöpfe. Gott sah, dass es gut war. Dieser Satz, der sich wie ein Refrain durch den Eröffnungstext der ganzen Bibel zieht, klingt wie ein Echo und eine Bekräftigung der überschäumenden Freude, mit denen die Psalmen die Schöpfung bejubeln. Ja, es ist wirklich gut! In der lebendigen Fülle der Welt spiegelt sich Gott, der gütig ist und das Leben will.

Kind, das im Garten arbeitet
Menschen, die für die Schöpfung sorgen, erhalten von ihr alles, was sie zum Leben brauchen.

Und die Verantwortung? Gehört für die Bibel mit dazu. Schöpfung ohne Verantwortung des Menschen ist für die Bibel schlicht nicht denkbar. In ihr findet die Güte Gottes ihren Resonanzraum. Als Gott den Menschen als Frau und Mann erschafft, richtet er sich direkt mit einem Auftrag sie: Sie sollen sich die Erde untertan machen und über die anderen Geschöpfe herrschen. Zugegeben, das mag für heutige Ohren erst einmal schräg klingen – nicht nach Bewahrung der Schöpfung, sondern nach der Lizenz zur Ausbeutung der Erde. Die Bibel denkt hier aber nicht an einen Großindustriellen, der ohne Rücksicht auf Verluste natürliche Ressourcen für seine eigenen Interessen nutzt. Im Hintergrund steht vielmehr das Bild des Königs, der sich wie ein guter Hirte verhält. Herrschen, das heißt dafür zu sorgen, dass alle zu ihrem Recht kommen, dass die Schwachen gestärkt und die Starken geschützt werden. Menschen, die so mit der Schöpfung umgehen, erhalten von ihr alles, was sie zum Leben brauchen. Sie leben von und mit der Schöpfung, ohne sie auszubeuten und zu zerstören. Papst Franziskus greift diesen Gedanken für uns Menschen des 21. Jahrhunderts auf, wenn er in seiner Enzyklika „Laudato Si“ zu einem Lebensstil einlädt, der geschwisterlich mit allen Mitgeschöpfen umgeht.

Die ökologische Krise der Gegenwart braucht eine Antwort aller Menschen

Die Bibel beginnt ihren langen Erzählfaden mit der Schöpfung. Aus heutiger Sicht geradezu ein Geniestreich. Denn Schöpfung ist ein vollkommen offenes Konzept. Vor aller religiösen oder kulturellen Differenzierung nimmt sie den Menschen als Menschen in den Blick, als Geschöpf unter Geschöpfen, das eine besondere Verantwortung trägt. Diese Idee ist hochintegrativ. Sie ist ein geteiltes Erbe der verschiedenen Spielarten des europäischen Christentums und gleichzeitig anschlussfähig an traditionelle Naturreligionen ebenso wie an moderne, säkulare Formen der spirituellen Naturerfahrung. Es ist vor diesem Hintergrund sicher kein Zufall, dass sich Papst Franziskus in Laudato Si ausdrücklich an alle wendet: Nicht an alle Katholikinnen, nicht an alle Christen, nicht an alle, die an Gott glauben – sondern an alle Menschen.

Regina Wildgruber
Regina Wildgruber ist die Weltkirchenbeauftragte im Bistum Osnabrück

„Du erneuerst das Angesicht der Erde“ – mit dem diesjährigen Mottovers aus Psalm 104 kehrt Renovabis zurück zu seinen Ursprüngen. Schon einmal hat dieser Vers eine Wende gedeutet, von der kaum einer zu träumen wagte. Die politische Wende im Europa des 20. Jahrhunderts braucht heute eine Fortsetzung auf globaler Ebene. Denn die ökologische Krise der Gegenwart lässt sich nur durch eine gemeinsame Antwort aller Menschen überwinden. Dafür ist mehr nötig als das Wissen um Prozesse und die Einsicht in die Dringlichkeit, mit der eine Veränderung herbeigeführt werden muss. Es braucht auch eine gemeinsame Haltung, ein spirituelles Fundament, das unterschiedlichste Menschen zusammen bringt, inspiriert und zum Handeln motiviert. Die biblische Vision von der Welt als Schöpfung Gottes mit ihren poetischen Bildern, ihrem Staunen und ihrem Überschwang macht Lust, sich an der Suche danach zu beteiligen.