Begegnung mit dem Auferstandenen
Ich bin absolut geflasht. So oft hatte ich ihn schon auf Postkarten und in Schulbüchern gesehen. Da fand ich ihn zum Teil kitschig und aus der Zeit gefallen. Jetzt stehe ich direkt davor und bin überwältigt. Der Isenheimer Altar – grandios, großes Kino.
Meterhohe Altarbilder stehen mitten in einem lichtdurchfluteten Kirchenraum, der zum Museum Unterlinden in Colmar gehört. Von Matthias Grünewald im 16. Jahrhundert geschaffene Gemälde auf großen Holztafeln, statisch, zweidimensional und zugleich ganz plastisch und voller Bewegung. Was für eine Dramatik: Der gekreuzigte Jesus, dessen geschundener Leib und gespreizte Finger allein Bände sprechen. Alles Leid dieser Welt scheint darin vereint zu sein. Unter dem Kreuz stehen leichenblasse Menschen wie z. B. seine Mutter Maria und der Jünger Johannes mit schmerzverzerrtem Gesicht. So viel Emotionalität und Ausdruck in einem Bild. Wie ist das dem Künstler bloß gelungen? Vielleicht durch den Bezug zu einem damals weit verbreiteten Leiden. Der Altar stand ursprünglich in einem Hospital für Menschen, die von der schweren Krankheit des Antoniusfeuer gezeichnet waren.
Geht man einige Schritte weiter zum nächsten Altarbild, steht man vor einer Darstellung des auferstandenen Christus. Früher tat ich mich sehr schwer damit. Ein Geschehen, das Raum und Zeit übersteigt, so realistisch ins Bild zu bringen, empfand ich als fraglich. Jetzt, wo ich davor stehe, entdecke ich darin eine gemalte Vision. Und diese zieht mich in ihren magischen Bann. Die Soldaten, die das Grab bewachen sollen, liegen machtlos am Boden, während der Auferstandene alle Todesschwere überwunden hat und in eine Sphäre des Lichts entrückt wird. Augen schauen mich aus einem Traumgesicht an, dessen menschliche Züge verwandelt und vergeistigt erscheinen. Sie nehmen mich mit hinein in diese Welt des Lichts, der Energie und der Schwerelosigkeit.
Es wird mir klar: Das Bild, das mir früher so altmodisch vorkam, ist seiner Zeit weit voraus. Vor einem nachtdunklen Hintergrund mit vielen aufblitzenden Sternen erstrahlt ein faszinierender Lichtkranz, der den Auferstandenen umgibt. Wunderschöne, ineinander fließende Farbübergänge, gemalt in einer Zeit, die noch keine physikalische Kenntnis der Spektralfarben des Lichts hatte.
Verwundert es da, dass dieses Gemälde noch heute Kunstschaffende beeindruckt? Ebenfalls in Colmar sind Werke der französischen Malerin Fabienne Verdier ausgestellt. Ihre Bilder sind vom Lichtkranz des Auferstandenen inspiriert. Während der Coronapandemie hat sie in vielen einsamen Stunden in ihrem Atelier für die an Corona verstorbenen Menschen Lichtkränze gemalt. Für jede einzelne Person ein Unikat, dem die Künstlerin jeweils einen Namen gegeben hat. Auch in ihren Bildern blitzen hier und dort kleine Leuchtpunkte auf wie Hoffnungssterne in der Nacht. Deshalb trägt die Ausstellung den klangvollen Namen „Le chant des étoiles – der Gesang der Sterne“.
Über die Autorin
Daniela Engelhard ist Leiterin des Forums am Dom in Osnabrück. Bei der Arbeit in dieser Einrichtung der Citypastoral kommt sie mit vielen unterschiedlichen Menschen in Kontakt. Von Erlebnissen und Themen, die sie bewegen, berichtet sie in ihren Blogbeiträgen.
Die Begegnung mit dem Auferstandenen in Colmar, die Pandemiebilder von Fabienne Verdier und dazu der Klang der Sterne in der Nacht – das ist mein persönliches Ostern in diesem Jahr. Ich wünsche Ihnen ein inspirierendes Osterfest, voller Hoffnung, Licht und Leben. Und mögen in der Nacht die Sterne singen.