Heilige und keine Heiligen
Bibelfenster zum 8. März 2011:
Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr!, Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt.
Einheitsübersetzung, Matthäus 7, 21
Wer kennt ihn nicht, den sympathischen Commissario Brunetti aus Venedig, Held der klugen Kriminalromane von Donna Leon. Mir fällt zu dieser Bibelstelle eine großartige Szene aus seinem sechsten Fall ein: In „Sanft entschlafen“ geht es um religiöse Fanatiker. Guido Brunetti sind sie mehr als suspekt, und sein zuverlässiger Begleiter, Sergente Vianello, hält überhaupt nichts von ihnen. Solche, das weiß er bestimmt, sind keine Heiligen. „Wer dann?“, fragt der Commisario resigniert. „Meine Mutter“, meint der Sergente schlicht. Sie hat einst zwei unversorgte Kinder von verstorbenen Freunden in die Familie aufgenommen.
Aha, denke ich beim Lesen, das ist nicht besonders originell. Doch ich erhalte meine Lektion in Sachen Voreiligkeit. Denn Vianello ist noch nicht zu Ende mit seiner Geschichte: Sein leiblicher Bruder beschimpfte diese Kinder einmal in aller Öffentlichkeit als Bastarde, der Familie nicht wirklich zugehörig. Die Mutter ist grenzenlos enttäuscht.
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Eines der so Verleumdeten gerät wenig später in arge Bedrängnis; Bastarde werden wie Freiwild behandelt. Unerwartet springt der nachdenklich geworden Sohn für den Adoptivbruder ein und prügelt sich mit dessen Peinigern. Die Blessuren, die beide Jungen mit nach Hause bringen, quittiert die Mutter mit Schweigen. Doch noch am selben Abend kocht sie für alle die aufwändige Lieblingsspeise des jungen Retters.
Ich ziehe meinen Hut – vor der Erzählerin ebenso wie vor der Akteurin. Das ist tatsächlich Heiligkeit: keine großen Reden schwingen, sondern mit Phantasie und Beharrlichkeit den Willen Gottes tun. Damit die himmlischen Verhältnisse auf Erden schon mal aufscheinen. Oder – wie im Hause Vianello – Menschen gelegentlich auch mal auf der Zunge zergehen.
Martina Kreidler-Kos