Die Zeichen der Zeit
Jesus ging in ein Haus und wieder kamen so viele Menschen zusammen, dass sie nicht einmal mehr essen konnten. Als seine Angehörigen davon hörten, machten sie sich auf den Weg, um ihn mit Gewalt zurückzuholen, denn sie sagten: Er ist von Sinnen. (…) Es saßen viele Leute um ihn herum und man sagte zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und suchen dich. Er erwiderte: Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Und er blickte auf die Menschen, die im Kreis um ihn herumsaßen, und sagte: Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.
Markus 3,20-21.32-35
„Wie kannst du nur so mit deiner Mutter sprechen? Und wie du wieder aussiehst…“ O-Ton 70er Jahre aus meinem Elternhaus; kein Fake: Meine Mutter hatte den Ärztesong „Junge“ schon 30 Jahre vor dessen Erscheinen vorausgeahnt. Dessen Refrain lautet: „Und wie du wieder aussiehst, Löcher in der Hose und immer dieser Lärm …“ Keine leichte Zeit – für meine Eltern.
Was mag Maria, die Mutter Jesu, nur über ihren Sohn gedacht haben? „Er ist von Sinnen …“, heißt es im Evangelium. Schon lange vor der oben zitierten Episode aus dem Evangelium mussten sich die Eltern vom Junior anblaffen lassen. Der hatte sich während einer Pilgerreise aus dem Staub gemacht, diskutierte lieber im Tempel, als bei den Eltern zu bleiben. Die fragten ihn: „Kind, warum hast du uns das angetan?“ Die wenig freundliche Gegenfrage: „Warum habt ihr mich gesucht?“ (Lk 2, 48-49)
Dieser Jesus machte es seiner Familie und seinen Zeitgenossen wahrlich nicht leicht: Familiäre Einwände weist er schroff zurück. Jesus, dem ehelosen Wanderprediger, geht es um seine Botschaft vom unmittelbaren Anbruch des Reiches Gottes. „Lass die Toten ihre Toten begraben“ (Lk 9,60), herrscht er einen Jünger an, der erst noch seinen Vater begraben will, bevor er Jesus nachfolgt. Ein weiterer, der sich von seiner Familie und seinem Hausstand verabschieden möchte, bevor er Jesus folgt, muss sich anhören: „Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes.“ (Lk 3, 62) Und hier nun die Zurückweisung an die Familie: „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?“
Passagen wie diese waren für die junge Kirche und noch mehr für die späteren Theologen eine echte Herausforderung. „Aus den wenigen Bemerkungen Jesu zur Ehe und seinen durchweg distanzierten Worten zum familiären Leben ließ sich im Urchristentum kein Regelwerk entwerfen, das als Richtschnur für das Handeln der Christen dienen konnte.“ So lautet die nüchterne Analyse von Eberhard Schockenhoff, dem vor einem Jahr verstorbenen Freiburger Moraltheologen. In seinem posthum erschienenen Buch „Die Kunst zu lieben“* erforscht er die Anfänge und Überlieferungen der christlichen Lehren zur Sexual-, Gesellschafts- und Familienethik und beschreibt die Quellen, aus denen sie schöpften.
Das Bibelfenster
Hier kommentieren jede Woche Menschen aus dem Bistum Osnabrück eine Bibelstelle aus einer der aktuellen Sonntagslesungen – pointiert, modern und vor allem ganz persönlich.
Haben Sie eine Frage? Eine ganz andere Idee zum Thema? Oder möchten das Bibelfenster als kostenlosen Newsletter abonnieren?
Dann schreiben Sie uns!
An bibelfenster@bistum-os.de
Danach suchte schon der Apostel Paulus Anleihen in den zeitgenössischen Wertvorstellungen. Und mehr noch: Die christlichen Denker der nachapostolischen Zeit bezogen die Erkenntnisse der antiken Naturforscher, Ärzte und Philosophen ein – kurz gesagt: sie brachten das (nicht christliche) Wissen ihrer Zeit sowie deren Tugend- und Lebensvorstellungen in die Lehren der Kirche ein. Wie Schockenhoff feststellt, taten sie das nicht unkritisch und „ungefiltert“, sondern waren ernsthaft bemüht, den Gläubigen und ihrem gesellschaftlichen Umfeld Anleitungen für ihr Leben zu geben. Was dann später allerdings den Nachgeborenen als vom Heiligen Geist und vom Evangelium gewirkte Erkenntnis erschien, verdankte sich in mancherlei Hinsicht dem Zeitgeist der antiken nichtchristlichen Gesellschaft. Durch die Jahrhunderte dogmatisch zementiert lasten diese steinernen Zeugnisse einer längst vergangenen Welt bis heute auf dem Lehrgebäude einer Kirche, die so kaum noch Gehör findet, da sie sich von der Lebenswelt vieler Menschen entfremdet hat.
Darum ist die Botschaft Jesu immer wieder vor dem Hintergrund des aktuellen und sich stets weiter entwickelnden Wissens über Mensch und Natur, Medizin und Philosophie zu lesen. Getreu dem Rat des Paulus: „Prüft alles und behaltet das Gute!“ (1 Thess 5,21).
Jesus provozierte seine Zeitgenossen, durchbrach Konventionen, mal mit der harschen Zurückweisung familiärer Bindungen, oftmals auch mit seiner Interpretation der Gesetze. Untrügliche Spuren davon haben sich in den Evangelien erhalten. Dazu zählte auch seine offene Haltung gegenüber Frauen, denen er ebenbürtig begegnete. Heute wissen wir von ihrer Nähe zu Jesus und ihrer Nachfolge, obwohl die antike Erzählweise sie zumeist unbeachtet ließ. In den frühen Gemeinden, in denen Frauen wichtige Aufgaben übernahmen, lebte diese Erinnerung zunächst weiter. Doch nicht das Vorbild Jesu, sondern die in der antiken Gesellschaft vorherrschende Unterordnung der Frau dominierte die spätere Überlieferung.
Heute ist die rechtliche und soziale Stellung der Frau zumindest in unseren Regionen grundsätzlich anders. Ein Beispiel, dass die Zeichen der Zeit durchaus von einem guten Geist durchwirkt sein können. Den gilt es immer wieder zu entdecken. Jesus ermuntert uns dazu mit den Worten: „Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?“ (Mk 4,40)
Diakon Gerrit Schulte
*Eberhard Schockenhoff: Die Kunst zu lieben. Unterwegs zu einer neuen Sexualethik. Herder Verlag Freiburg i.Br. 2021