Eine Weihnachtsgeschichte der anderen Art …
… zu lesen in dunklen Zeiten
Es ist Weihnachten im Jahr 1252. Klara von Assisi, zu diesem Zeitpunkt etwa sechzig Jahre alt, und seit über vierzig Jahren „Arme Schwester“ in der Nachfolge Christi, liegt krank im Schlafsaal ihres kleinen Klosters San Damiano. Es ist nicht daran zu denken, dass sie in die Kapelle gehen und gemeinsam mit ihren Schwestern die weihnachtliche Liturgie feiern kann. Dabei werden die Schwestern alle Möglichkeiten abgewogen haben: „Könnte Klara nach unten getragen werden?“ Immerhin liegt die Kapelle nur ein Stockwerk tiefer. „Wenn alle mit anpacken, Klara wiegt doch kaum etwas!“ – „Aber erlaubt das ihr Zustand?“ – „Was ist mit der steilen Treppe?“ – „Ist es nicht zu gefährlich?“ – „Was wird der Priester dazu sagen? Und alle anderen, die mit uns feiern?“ Man hat sich schließlich entschieden, es nicht zu wagen.
Klara bleibt an diesem Weihnachtsabend allein in dem großen, kargen Schlafraum. Die Schwestern begeben sich leise nach unten. Langsam wird es finster, aus Sicherheitsgründen darf kein Licht brennen. Zu hören ist auch nichts. Es gibt zwar eine Luke zur Kapelle hin, ein kleines Loch im Boden, aber das befindet sich im Vorraum um die Ecke. Die Mauern sind dick und die Steine schlucken jeden Laut. Klara fühlt sich verlassen. Weihnachten wird gefeiert und sie kann es nicht spüren. Sie, die eine so große Liebe zum Kind in der Krippe hat, kann nicht dabei sein, wenn es besungen wird. Statt festlichem Jubel nur Traurigkeit, statt warmer Lichter, biblischem Zuspruch und tröstlicher Inspiration nur einsame Dunkelheit.
Über die Autorin
Martina Kreidler-Kos ist Leiterin des Osnabrücker Seelsorgeamts. Ihr liegen die großen Fragen der Kirche am Herzen – aber auch die kleinen, alltäglichen und nur scheinbar nebensächlichen Dinge.
Wunderbare Worte hat sie für das Weihnachtsgeheimnis gefunden, immer gestaunt über die bedingungslose Nähe Gottes zu den Kleinen, den Einsamen, den Ausgegrenzten. Und nun ist sie selbst eine von ihnen: „O Gott, schau, wie man mich allein bei dir an diesem Ort gelassen hat.“ Es ist dies ihr bitterster Satz, den uns die Quellen überliefern. Die Enttäuschung ist nicht zu überhören.
Wer an dieser Stelle überrascht, ist Gott. Er maßregelt die zukünftige Heilige nicht für diese Klage, er macht auch keine Demutsübung aus dieser Erfahrung. Im Gegenteil, er sieht, dass sie jetzt eher Trost als eine weitere Herausforderung braucht. Verzicht übt sie in ihrem Leben ohnehin genug. Deshalb erweist sich Gott in dieser Nacht als Klaras ebenso einfallsreicher wie großzügiger Liebhaber: Woran könnte sie jetzt ihre Freude haben? Was vermisst sie so schmerzlich? Die Feier der Menschwerdung? Dann soll sie daran teilnehmen können – und zwar so richtig!
Am anderen Ende der kleinen Stadt Assisi haben sich aus allen Teilen Europas die Brüder des heiligen Franziskus eingefunden. In der großen, gerade neu erbauten Basilika San Francesco feiern sie die Christnacht am Grab ihres heiligen Bruders. Es sind viele zusammengekommen, darunter großartige Sänger und Prediger. Wie wäre es, wenn Klara an diesem Fest teilhaben könnte? Wie wäre es, auf diese Weise ihr dunkles, trauriges Herz zu füllen mit der Botschaft der Heiligen Nacht: dem Kommen des Erlösers zu jeder Kreatur, auch im einsamsten und dunkelsten Winkel dieser Stadt und dieser Erde? Und tatsächlich, Klara darf mit all ihren bedürftigen Sinnen an dieser Liturgie partizipieren. In einer Art „Life-Übertragung“ oder „Streaming“ sieht sie sich mitten unter den Minderbrüdern, nahe beim Grab des geliebten Franziskus, nahe am Geheimnis der Weihnacht. Sie sieht und hört ihre vertrauten Freunde, die alten Kämpfer, aber auch die neuen, jungen Brüder, die sie vermutlich hoffnungsvoll stimmen. Sie hört den gemeinsamen Jubel, sie lauscht den Gesängen und all den guten Worten.
Als ihre Schwestern von der eigenen Feier besorgt zu ihr zurückkommen, teilt sie diese glückselige Erfahrung, strahlt, wie sie das immer tut, wenn sie vom intensiven Gebet zurückkommt. Der Glanz der Weihnacht und vermutlich auch der Glanz dieser liebevollen Aufmerksamkeit Gottes liegen auf ihrem Herzen und auf ihrem Gesicht. Sicher wird das noch lange zu spüren gewesen sein in der ganze Gemeinschaft von San Damiano.