„Es geht um die ganze Seele“

Es riecht nach Kaffee, einige Bewohner*innen sitzen noch am großen Frühstückstisch, die Teller sind bereits abgeräumt. 8.45 Uhr im Altenpflegeheim Haus St. Michael in Ostercappeln: Monika Wilker durchquert den offenen Frühstücksraum. Sie ist auf dem Weg zur hauseigenen Kapelle, dort findet in 45 Minuten ein Gottesdienst statt, den sie noch vorbereiten möchte. Doch sie bleibt stehen, erblickt eine ältere Frau, die etwas traurig, suchend im Raum steht, auf ihrem Pullover ein größerer Wasserfleck. Eine freundliche Begrüßung, ein Lächeln, direkter Augenkontakt: „Moment, ich sag schnell den Pflegerinnen Bescheid.“ Man spürt sofort: Monika Wilker sieht Menschen, nicht Fälle.
Monika Wilker lacht, wenn sie an ihre ersten Tage im Haus St. Michael zurückdenkt. „Ich habe hier vor vielen Jahren angefangen, abends in der Küche zu arbeiten, damals waren meine Kinder noch klein“, erzählt sie. Doch schon damals bemerkte sie die stille Traurigkeit mancher Bewohner*innen, die nicht mehr zum Gottesdienst in die hauseigene Kapelle gehen konnten. „Da habe ich gedacht: Die haben die Kirche nach dem Krieg mit aufgebaut – und jetzt fehlt ihnen genau das, was ihr Leben geprägt hat.“

Heute gestaltet sie im Haus die Seelsorge gemeinsam mit ihrer Kollegin Waltraud Wagner. Monika Wilker ist Betreuungskraft und als „Begleiter*in und Koordinator*in in der Seelsorge“ ausgebildet – eine Qualifikation, die das Bistum Osnabrück anbietet: Sie hält Andachten – mal in der Kapelle, mal im Zimmer, manchmal gemeinsam mit Angehörigen. Sie gestaltet Wortgottesfeiern, teilt die Kommunion aus und ist ansprechbar für spirituelle Fragen oder einfach fürs Zuhören. Während der Pandemie waren sie und ihre Kollegin oft die Einzigen, die überhaupt Gottesdienste ermöglichen konnten. Besonders am Herzen liegt Monika Wilker die Reihe „Gott erleben“ für an Demenz erkrankte Menschen. Dabei spricht sie gezielt die Sinne an – mit Düften, Symbolen, Liedern, die jede*r kennt, Elementen zum Sehen, Riechen, Fühlen, Schmecken. „Jeder erlebt den Gottesdienst anders. Wichtig ist, dass alle sich eingebunden fühlen.“
Geschichten, die nahe gehen

Monika Wilker trägt Geschichten in sich wie kleine Schätze. Da war die Bewohnerin, die ohne ihren Rosenkranz unter dem Kopfkissen nicht schlafen konnte. Das Pflegeteam legte ihn ihr jeden Abend bereit, weil sie selbst dazu nicht mehr in der Lage war – und Unruhe wich Frieden. „Solche Dinge erfährt man aber nicht einfach so. Dafür muss man mit den Menschen sprechen, ihnen zuhören. Ich mache keine Seelsorge im Flur, beim Vorbeigehen“, sagt Monika Wilker. Zuhören – das sei sowieso das Allerwichtigste in ihrem Beruf.
Oder ein Bewohner, der mit geballten Fäusten und mit starrem Blick an einem ersten Mai durchs Foyer stürmte, auf der Suche nach seiner Frau. Er verließ das Haus, Monika Wilker ging mit ihm – ein ganzes Stück den Berg hinauf bis zum Steinkreuz. „Ich wollte ihn unterwegs motivieren, umzukehren, hab ihm ganz viele Dinge versprochen, aber er hat mich gar nicht wahrgenommen – dachte ich. Oben auf dem Berg war er erschöpft, ich habe uns abholen lassen, wollte ihn auf sein Zimmer bringen, dann sagte er: ,Sie haben versprochen, mit mir in der Kapelle zu beten.‘“ Dort, bei der Mutter Gottes, ist alles aus ihm herausgebrochen – Tränen, Dank – und danach war er wieder gut zufrieden. Wenn sich niemand die Zeit genommen hätte, wäre er vermutlich in diesem aggressiven Zustand geblieben.
Weitere Infos
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- Ein passender Buchtipp zum Thema ist das Debüt von Tamar Noort – Die Ewigkeit ist ein guter Ort. Im Roman geht es um eine junge evangelische Pastorin, die in einem Pflegeheim in Norddeutschland in der Seelsorge arbeitet und plötzlich unter „Gottdemenz“ leidet, sowie um ihre persönlichen Erfahrungen und Begegnungen mit Gott.
Was braucht deine Seele heute?
Monika Wilker kann viele solcher Momente erzählen – so wie die meisten Menschen, die in der Pflege arbeiten. Seelsorge ist kein Soloprojekt. Monika Wilker lobt die Kolleg*innen, die Unterhemden auf Heizungen vorwärmen oder in ihrer Freizeit das Lieblingsgebäck besorgen. „Dafür muss man nicht katholisch sein, sondern zuhören können. Anstatt zu sagen: ,Sie müssen aber etwas essen‘ – frage ich: ,Was würde Ihnen schmecken?‘ Das öffnet eine ganz andere Welt.“
Monika Wilker sucht, hört, erspürt, sie schenkt Trost, Identität und Versöhnung. Was gibt ihr selbst Kraft? Sie lächelt: „Wenn die Augen leuchten, weiß ich, warum ich hier bin.“ Und dann zitiert sie Rolf Zerfaß: „Ein Freund ist ein Mensch, der dich an die Melodie deines Lebens erinnert, wenn du in Gefahr bist, sie zu vergessen.“ Gottes Nähe, das zeigt ihr Alltag, leuchtet genau dort auf, wo jemand fragt: „Was braucht deine Seele heute?“ Seelsorge, sagt sie, ist Teil von guter Pflege. Denn es geht eben um den ganzen Menschen. Um die ganze Seele.