(K)ein Elefant im Porzellanladen!
Jeder kennt ihn, nicht alle verhalten sich danach: Der „Knigge“ – oder wie es korrekt heißt: „Über den Umgang mit Menschen“ – , verfasst von Adolph Franz Friedrich Ludwig Freiherr Knigge im Jahr 1788 ist bis heute in aller Munde und gilt als ältestes deutsches Regelwerk über gutes Benehmen. Dabei schickte sich schon über 800 Jahre früher ein Dichter an, seinen Zeitgenossen das Einmaleins der Umgangsformen beizubringen.
Viel ist nicht bekannt über Thomasin von Zerclaere. Geboren um 1186 im Friaul, wird er später Beamter und dann Domherr im Dienste Wolfgangs von Erlach, früherer Bischof von Passau und ein Förderer Walthers von der Vogelweide. Thomasin gilt als gebildet, spricht mehrere Sprachen. Aber die Zeiten sind unruhig und politisch wirr. Die Staufer und Welfen streiten sich erbittert um die Königskrone im Reich. Es geht um Macht, Verrat und Mord. Und während der deutschsprachige Adel von einer Krise in die nächste taumelt, bleibt eines auf der Strecke, die Moral.
1215 macht sich Thomasin daran, in (angeblich) nur zehn Monaten das monumentalste deutschsprachige Lehrgedicht des Mittelalters zu verfassen: „Der Welsche Gast“ umfasst knapp 15 000 Verse in Bairischem Mittelhochdeutsch und hat nicht weniger zum Ziel, als seine Leser zu besseren Menschen zu machen. Es geht um die Vermittlung höfischer und religiöser Tugenden wie Beständigkeit, Mäßigung und Großzügigkeit, um gute Tischmanieren, Treue in der Ehe und die Konsequenzen im Jenseits, wenn man es mit eben diesen Werten nicht so genau nimmt. Das Werk ist in insgesamt 10 Bücher unterteilt und jedes hat seine Zielgruppe. Das erste ist der Jugend am Hofe vorbehalten, die anderen den Herren und Rittern, Damen und Klerikern. Der Welsche Gast – so nennt der Autor nicht nur das Werk, sondern auch sich selbst. Die deutsche Sprache wählt er, um seine Leser besser zu erreichen und obwohl es nicht seine Muttersprache ist. Für eventuelle Fehler entschuldigt er sich deshalb noch im Text.
Gier, Habsucht, Eitelkeit – die Laster, die Thomasin von Zerclaere an den Pranger stellt, sind heute noch genauso aktuell wir vor 800 Jahren. Die Nachrichten und sozialen Netzwerke sind gefüllt mit Beispielen, für die der Welsche Gast vielleicht ein gutes Lehrwerk wäre. Wer keine Lust hat, zu lesen, dem kann trotzdem geholfen werden: alle 24 erhaltenen Abschriften sind gefüllt mit wunderschönen Bildern, die den Text anschaulich illustrieren. Die Auswahl und Platzierung der Malereien soll der Dichter selbst vorgenommen haben. Die schönste Abschrift, die als Faksimile in der Ausstellung „Gebundene Pracht“ ausliegt, entstand um 1340 und befindet sich heute auf Schloß Friedensstein in Gotha. Über den Auftraggeber ist nichts bekannt. Die Spur führt von Regensburg über München bis zum heutigen Aufbewahrungsort.
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Die Bilder in dieser Abschrift lassen die Welt des Mittelalters wieder lebendig werden: Ritter im Kampf, Menschen beim gemeinsamen Spiel, Tiere, Engel und Teufel tummeln sich auf den 204 Seiten. Gleich zu Beginn treffen sich die Tugend und die Untugend, dargestellt als schöne Frauen, zum Schlagabtausch. „Treibet aus die Untugenden!“ ruft die eine, „Erwehret euch fest der Tugenden!“ kontert die andere. Und so treten sie als Ritter gegeneinander an, die Laster gegen die Tugenden, die Beständigkeit gegen die Unbeständigkeit, das Recht gegen das Unrecht, die Mäßigung gegen die Maßlosigkeit und die Freigebigkeit gegen die Bosheit. Wer gewinnt? Das Gute natürlich! Dass das irgendwann gelingt, dazu wollte Thomasin von Zerclaere mit seinem Welschen Gast beitragen und sollte damit der erste von prominenten Schriftstellern werden, die den Glauben in die Menschheit nicht aufgaben.