Nächstenliebe kennt keine Grenzen

Jugendliche stehen auf einem Feld, umarmen einander
Bild: unsplash, Dimitri Houtteman

Als die Pharisäer hörten, dass Jesus die Sadduzäer zum Schweigen gebracht hatte, kamen sie am selben Ort zusammen, Einer von ihnen, ein Gesetzeslehrer, wollte ihn versuchen und fragte ihn: „Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste?“ Er antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und deinem ganzen Denken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.

Matthäus 22,34-40

 

„Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste?“ So fragt der Gesetzeslehrer. Angesichts von 248 Geboten und 365 Verboten in der Thora eine berechtigte Frage. Das Thema wurde seinerzeit heftig diskutiert. Jesus lichtet den Dschungel der Vorschriften so einfach wie genial: Simplify your life – so könnte man das heute in Anlehnung an den Weltbestseller des evangelischen Karikaturisten und Pastors Tiki Küstenmacher nennen: Aus den insgesamt 613 Weisungen wird in der Antwort Jesu das Doppelgebot der Liebe. Gottesliebe und Nächstenliebe: An diesen beiden Geboten, sagt Jesus, hängt das ganze Gesetz samt den Propheten. So einfach ist das!

Gottesliebe – Nichts einfacher als das. Oder? So einfach geht es mit der Liebe dann doch nicht. Die Probleme beginnen schon mit der Frage: Kann man denn Liebe überhaupt gebieten? Und kann man überhaupt jemanden lieben, den man nicht sehen und den man nicht berühren kann? Das Gebot der Gottesliebe zitiert Jesus aus dem Buch Deuteronomium (Dtn 6,5). Folgt man der jüdischen wie der kirchlichen Auslegungstradition, verstanden die Menschen unter dieser Liebe keineswegs eine romantische Beziehung. Gottesliebe verstanden sie als den Glauben an den einen Gott und den Gehorsam gegenüber seinen Geboten. Heute – nach den Fortschritten der Naturwissenschaften und der Aufklärung – schließen sich neue Fragen an. Müssten wir Gottesliebe nicht neu beschreiben als das radikale Suchen nach dem einen Gott? Als das Fragen nach dem Grund unseres Glaubens und Handelns?

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Nächstenliebe – Nichts einfacher als das. Oder? Jesus zitiert auch dieses Gebot aus der hebräischen Schrift, dem Buch Levitikus (Lev 19,18). Neu ist für seine jüdischen Hörer die direkte Zusammenstellung der beiden Gebote und die damit verbundene Hervorhebung der Nächstenliebe aus den vielen Weisungen. Es geht um den notleidenden Menschen – bis hierher herrscht Einigkeit. Aber schon in der frühen christlichen Gemeinde verstanden einige darunter vor allem die Liebe zu den christlichen Geschwistern. Durch den Apostel Paulus sahen sie sich bestärkt. Der schrieb im Brief an die Galater: „Lasst uns (…) allen Menschen Gutes tun, besonders aber den Glaubensgenossen!“ (Gal 6,10) Hier knüpfen heute die Nationalisten und Populisten an. Sie sagen: Jesus spreche bewusst von Nächstenliebe und nicht von Fremdenliebe. Die Radikalisierung der Nächstenliebe bis hin zur Feindesliebe blenden sie aus. Jesu Gleichnis vom Barmherzigen Samariter macht dagegen deutlich, dass die Nächstenliebe keine Grenzen kennt – weder nationale, noch religiöse, noch soziale. Ein universeller Anspruch. Und eine Liebe, die sich auch hier weniger als Gefühl, denn als solidarisches Handeln bewährt.

All you need is love! Am Ende geht es auch bei Jesus um die Selbstliebe. „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, sagt er. Ein Wort, das heute sehr viel mehr Beachtung findet, als in den Jahrhunderten zuvor. Denn viele Menschen, vor allem Frauen, die in der Vergangenheit geradezu zur Selbstaufgabe in Kirche und Gesellschaft gedrängt wurden, sehen sich endlich ermutigt, ein neues Selbstbewusstsein zu leben. Für die Psychologie steht ohnehin außer Frage, dass die Bejahung der eigenen Person und des eigenen Lebens und der eigenen Freiheit zur Liebesfähigkeit des Menschen gehört. Die neue Einheitsübersetzung empfiehlt an dieser Stelle im Buch Levitikus übrigens eine interessante und mögliche weitere Übersetzung: „Du sollst deinen Nächsten lieben. Er ist wie du!“ So einfach ist das!

Gerrit Schulte, Diakon