Reisezeit – Lebenszeit

Bahnhof
Bild: AdobeStock.com, MKS

Wie so oft in diesen Tagen: Der ICE ist überfüllt und ich muss mich bis zu meinem Platz durchkämpfen. Der ist noch frei, aber da steht ein Koffer. Daneben sitzt eine alte Dame. Ich gebe ihr freundlich zu verstehen, dass ich den Platz reserviert habe und frage, ob ich ihren Koffer nach oben packen soll.

Entsetzt schaut sie mich an: „Nein, den bekomme ich da nie wieder runter!“ Ich sage, dass ich ihr gerne helfen würde, aber sie scheint mich nicht zu verstehen. „Wissen sie, das Alter.“ Okay, denke ich, wir sollten eine Lösung finden, hinter mir stauen sich schon die Leute. „Ich kann ihren Koffer auch in die Gepäckablage bringen. Da können ihn leicht wieder vorziehen“, schlage ich vor. Die Frau folgt meinem Handzeichen: „Oh nein, das ist viel zu weit weg.“ Langsam verliere ich die Geduld. „Ich helfe ihnen auf jeden Fall, wo müssen sie denn aussteigen?“ „Ich habe noch eine weite Fahrt vor mir“, sagt sie zugeknöpft.

Über die Autorin

Martina Kreidler-Kos ist Leiterin des Osnabrücker Seelsorgeamts. Ihr liegen die großen Fragen der Kirche am Herzen – aber auch die kleinen, alltäglichen und nur scheinbar nebensächlichen Dinge.

So kommen wir nicht weiter. Freundlich, aber bestimmt hieve ich ihren Koffer hoch und sage: „Ich steige so schnell nicht aus. Und sonst finden wir jemand anderen, der sie unterstützt.“ Lange fahren wir schweigend nebeneinander her. Auf einmal sagt sie leise: „Ich bin Zugfahren nicht gewöhnt. Das hat immer mein Mann gemacht, also, er hat unser Auto gefahren, aber jetzt ist er…“, sie schluckt. „Jetzt muss ich den Zug nehmen, wenn ich zu meiner Tochter will.“ Ich schaue sie überrascht an. „Das finde ich sehr tapfer!“, bringe ich heraus. Sie strafft sich: „Ja? Aber das schaffe ich noch, das glauben Sie doch auch, oder?“ „Bestimmt“, sage ich, „Sie machen es schon richtig gut!“ Wieder ist sie lange still und wirkt etwas neben der Spur. Als sie aussteigen muss und wir den Koffer erfolgreich zusammen herunterwuchten, sagt sie auf einmal ganz klar: „Sie haben recht, das Leben ist noch nicht zu Ende!“ Und wie kostbar ist es in all seinen Facetten, denke ich, als ich ihr durchs Fenster nachschaue.

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