Keine Angst vor der Nachtschicht

roter Telefonhörer mit Kabel
Bild: pexels.com, negativespace.co

Sie hören zu – ob jemand weint, redet oder am anderen Ende der Leitung schweigt. Die Mitarbeiter der Telefonseelsorge halten viel aus, wenn sie mit verzweifelten Menschen sprechen. Ihr Dienst wird immer wichtiger.

Ein Beispiel aus dem Emsland: „Natürlich zeige ich Ihnen, wo ich sitze“, sagt der 74-Jährige Gerhard Schulze und geht voraus. Er macht die Tür auf und schmunzelt über das verblüffte Gesicht seines Gastes. Keine abgeschirmte Kammer öffnet sich, sondern ein gemütliches Büro mit bequemer Couch und Rosen vor dem Fenster. Hier, in einem Haus in Meppen, arbeitet Schulze ehrenamtlich für die Telefonseelsorge Emsland. Heute hat er keinen Dienst, aber er erzählt davon. Seinen Name ist eigentlich ein anderer, aber der soll in diesem Artikel nicht genannt werden; Anonymität schützt die Anrufer und auch ihn.

Kostenlos und anonym

Mensch blickt in den Himmel
Sorgen kann man teilen – dafür ist der Dienst der Telefonseelsorge wichtig. Bild: unsplash.com, Cole Patrick

Drei- bis viermal im Monat sitzt der Pädagoge für mehrere Stunden an diesem Schreibtisch, an diesem Telefon. Hört zu, wenn Menschen ihre Trauer und Ängste, ihre Wut und Einsamkeit bei ihm loswerden müssen. Weil ihnen sonst niemand zuhört, weil sie es allein nicht mehr aushalten. „Aber Sorgen kann man teilen“, sagt er. „Dafür sind wir da.“ Kostenlos, anonym, rund um die Uhr. Wir – das sind gut 60 Frauen und Männer, die sich als Telefonseelsorger im Emsland und der Grafschaft Bentheim engagieren. Ohne dass sie Geld oder öffentliche Anerkennung bekommen. Sie arbeiten im Stillen: jeder von ihnen 112 Stunden im Jahr, tagsüber und nachts. „Für viele von uns ist das Büro wie ein zweites Zuhause“, sagt Schulze und schaut sich um, schaut nach draußen ins Grün der Bäume.

Immer ein offenes Ohr

Er gehört seit zehn Jahren zum Team. Wie es angefangen hat? Das war 2004, als der Emsländer vor der Pensionierung steht und nach einer sinnvollen Betätigung sucht. „Ich wollte Dank sagen für das Geschenk meines Lebens, ohne ernste Krisen oder Krankheit“, sagt der 74-Jährige. Außerdem will er seine Kompetenzen nicht brachliegen lassen. Als Sprachtherapeut weiß er, wie ein Gespräch festgezurrte Gedanken lösen kann. Als eine Mitarbeiterin der Telefonseelsorge anfragt, scheint es Fügung zu sein. Diese Arbeit passt zu ihm. Gelassen sitzt Schulze am Schreibtisch, er ruht in sich. Erst kürzlich hat er mal aufgeschrieben, was die Telefonseelsorge ausmacht. Wohlgewählt sind diese Sätze. Sie zeugen davon, wie durchdacht er seine Arbeit angeht und wie wichtig sie ihm ist.

Kontakt

Die Nummern der Telefonseelsorge:
0800/111 01 11
und 0800/111 02 22


Am liebsten übernimmt der Pädagoge die Nachtschichten, auch wenn sie mit zehn Stunden lang und anstrengend sind. Denn nachts kommen andere Anrufe, „das ist viel intensiver“. Vielleicht, weil in der Dunkelheit nichts mehr ablenken kann. Vielleicht, weil die Sorgen manchen Anrufer nicht schlafen lassen. Schulze erlebt diese Stunden als kostbare Erfahrung, als echtes Geschenk – vor allem, wenn er Menschen ein Licht am Ende ihres Tunnels zeigen kann. Wie er das schafft? Vor jedem Gespräch schließt er kurz die Augen und erlaubt seinem Verstand, in die Stille zu gehen. „Manchmal bin ich dann selbst erstaunt, wo später der passende Satz, das richtige Wort herkommen.“

Wie hält er das aus, all‘ die Schicksale zu hören? Kraft findet Schulze im Gebet. Schon auf der Fahrt nach Meppen hat er dafür ein Ritual. Er stellt das Autoradio aus und schickt eine Bitte gen Himmel: „Lieber Gott, schicke mir heute Menschen, denen ich helfen kann.“ Nicht immer klappt das. Manche Probleme lassen sich nicht lösen, das nimmt er mit nach Hause. „Eine gesunde Distanz ist aber wichtig“, sagt der 74-Jährige. Seine Frau hilft ihm dabei, einen sportlichen Ausgleich findet er auf dem Tennisplatz.

Aber am wichtigsten sind die Gespräche mit anderen Telefonseelsorgern in Supervisionsgruppen unter Leitung eines Supervisors. Dabei tauschen sich die Ehrenamtlichen aus, stützen und ermutigen sich. „Häufig kommt dann Beglückendes ans Tageslicht – und das ist gut so“, sagt der 74-Jährige mit einem heiteren Lächeln. Und man spürt, er freut sich auf den nächsten Einsatz. In diesem Büro, an diesem Telefon.