Vor dem schwarzen Vorhang
Eine alte Dame fährt in einer Kutsche, so erzählt Michael Ende. Unterwegs schiebt sie den schweren Vorhang ihres Kutschenfensters beiseite. „Warum fährst du nicht schneller?“, fragt sie den Kutscher. „Wir sind in einer Schlage, in einen Konvoi geraten. Die Straße ist verstopft.“
Gaukler, Kinder, Alte, Frauen und Männer waren unterwegs mit Maultieren, mit Hunden, Straßenvögeln. Auch wenn vieles darauf deutete, ein Zirkus waren sie nicht. Sie kamen vor langer Zeit aus dem Himmelsgebirge. „Was habt ihr da gemacht?“, wurden sie gefragt. „Wir haben ununterbrochen Theater gespielt, denn dieses Schauspiel hält die Welt zusammen. Mittlerweile haben die meisten dieses Schauspiel vergessen. Es ist schon zu lange her.“
„Warum habt ihr aufgehört zu spielen?“ „Wegen einem Wort: Eines Tages bemerkten wir, dass uns ein Wort fehlt. Wir finden es nicht. Seitdem suchen wir es. Die Welt setzt sich nur noch aus Bruchstücken zusammen, von denen keines mehr mit dem anderen etwas zu tun hat. Und dieser Zerfallungsprozess ist nicht zu stoppen. Wenn wir das Wort nicht finden, das alles wieder mit allem verbindet, dann wird die Welt zerfallen.“ „Wo geht ihr hin? Wer führt euch?“ „Das Wort“, antwortete ein Mädchen. „Halten Sie an“, rief die alte Dame ihrem Kutscher zu. „Wollen Sie wirklich mit denen da gehen?“, fragte der Kutscher die alte Dame. Stumm verfolgte die Dame den Zug. Schließlich sagte sie zu dem Kutscher: „Fahren Sie zurück!“ „Glauben Madame daran, dass Sie dieses Wort irgendwann finden?“ „Sollten Sie es finden, wird die Welt eine andere. Vielleicht werden wir Zeuge davon. Aber jetzt fahr los!“
In dieser Geschichte von Michael Ende entdecke ich Phasen der Gottessuche. „Der schwarze Vorhang“ wird beiseite gezogen. Die Gottesfrage tritt in mein Leben. Der „Zug“, die „Pilger“ sind Menschen der verschiedenen Religionen, Kirchen, Überzeugungen. Alle suchen nach einem „Wort“, das ihnen fehlt, was verloren gegangen ist. Ein Wort hält alles zusammen. Ein Wort kann den weiteren Prozess des Zerfallens aufhalten. Ein Wort kann alles verändern.
Der schwarze Vorhang wird beiseite gezogen. Es ist wie der Augenblick der Geburt, der Augenblick des Lichtes, des langsamen Sehen-könnens. Mit dem Geboren-werden kommen dann auch die Fragen nach dem Woher? Weshalb? Wohin? All die Fragen, die in dem einen Wort zusammengefasst werden: Gott. Ist er da? Gibt es einen Gott? Wie zeigt er sich? Wie der Umzug in der Erzählung bunt ist, so ist die Suche nach Gott verschieden, bunt. Sie zeigt sich in verschiedenen Religionen und Weltanschauungen. Allen gemeinsam ist: Sie suchen, sie besitzen Gott nicht.
Als Neugierige, als Suchende können sie mit dem Suchen zu Gott unterwegs sein, so wie es der Prophet Sacharja sagt: „So spricht der Herr der Heere: In jenen Tagen werden zehn Männer aus Nationen aller Sprachen einen Mann aus Juda an seinem Gewand fassen, ihn festhalten und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört: Gott ist mit euch.“ (Sach 8,23)
„In unseren Inneren befindet sich ein überaus kostbarer Palast“, sagt die heilige Teresa von Ávila. Meine Träume, meine Sehnsucht, meine Begabungen, meine Talente, meine Ängste und meine Zweifel, meine Hoffnung und Wünsche zeichnen meine Lebenskutsche aus. Ich ziehe den schwarzen Vorhang weg, damit ich mit den Kostbarkeiten Ausschau halte nach dem Einen.
Über den Autor
Theo Paul ist Generalvikar und damit Stellvertreter des Bischofs und Leiter der Verwaltung des Bistums. In seinen Blogbeiträgen greift er gerne aktuelle Themen auf.