Die Uhr tickt
„Wir haben keine Zeit mehr.“ Vor etwa 15 Jahren klagten über 30 Prozent der Deutschen über Zeitdruck. Heute steht die Hoffnung nach weniger Stress und mehr Entschleunigung noch mehr als zuvor auf der Wunschliste. Aktuell sagen sogar knapp 68 Prozent der Deutschen, sie möchten weniger Stress. Die Weisheit aus der Bibel: „Freut euch zu jeder Zeit!“ (1 Thessalonicher 5,16) kann da ein guter Ratschlag sein. Denn sich freuen, einfach so, über die kleinen Dinge im Leben, das tun wir heute doch eigentlich viel zu selten.
Arbeit, Familie, Freunde, Freizeit, Sport – und schlafen müssen wir ja schließlich auch noch irgendwann! Kein Wunder also, dass sich viele Menschen wünschen, der Tag hätte mehr als 24 Stunden. Alles, was wir tun, sollte möglichst effizient sein; häufig erledigen wir mehrere Dinge gleichzeitig, um Zeit zu gewinnen. Es ist beinahe wie in „Momo“, dem berühmten Buch von Michael Ende. Darin sind es geheimnisvolle graue Herren, die die Menschen zum Zeitsparen anhalten. Das funktioniert – doch für den Preis der Freude. Ein Friseur in der Geschichte lässt sich z. B. auf keinen Plausch mit seinen Kunden mehr ein; dadurch spart er pro Haarschnitt zehn Minuten. Seine alte taube Mutter, für die er sich sonst immer Zeit genommen hat, bringt er in ein Altenheim. Glücklicher wird er dadurch nicht. Nur gehetzt und einsam. Denn die gesparte Zeit verschwindet, ohne dass er sie genießen kann. Eine traurige Vorstellung.
Deswegen jetzt eine gute Nachricht: zumindest eine Stunde bekommen wir in der Nacht vom 26. auf den 27. Oktober geschenkt. Einfach so. Denn da werden die Uhren in Europa von Sommer- auf Winterzeit umgestellt – eine Stunde zurück.
Schließlich kann man so viel Schönes mit der Zeit anstellen! Zum Beispiel die Stunde einfach verschlafen. Sich ins Bett kuscheln, noch mal umdrehen und vom nächsten Sommerurlaub träumen. Oder von Schneeballschlachten und einem Wintertag vor dem Kamin. Hier kommen noch ein paar tolle Ideen, wie man 60 Freiminuten nutzen kann:
Sie könnten sie zum Beispiel jemandem schenken! Schon 1987 erkannte die Dichterin Elli Michler, dass Zeit heute eines der größten Geschenke ist: „Ich wünsche dir nicht alle möglichen Gaben. Ich wünsche dir nur, was die meisten nicht haben: Ich wünsche dir Zeit, dich zu freun und zu lachen und wenn du sie nützt, kannst du etwas draus machen“, heißt es in ihrem wohl berühmtesten Text.
Treffen Sie sich für eine Stunde mit einem alten Freund, den Sie lange nicht gesehen haben, rufen Sie mal wieder Ihre Mutter an, spielen Sie Verstecken mit Ihren Kindern, bringen Sie Ihre Liebsten zum Lachen oder machen Sie Ihnen eine Freude, indem Sie einfach mal eine Stunde voll und ganz für Sie da sind – ohne Telefongebimmel, ohne Hetze zum nächsten Termin.
Oder Sie schenken die Zeit sich selbst. Aber bitte nicht, um endlich einmal den Gefrierschrank abzutauen, sondern für einen Herbstspaziergang durch den bunten Blätterwald. Oder für eine vertrödelte Stunde auf dem Sofa. In der Sie einfach mal nichts tun. Außer vielleicht, still werden und mal wieder ganz Sie selbst sein.

Zeit ist ein Geschenk – und wir haben sie nicht unendlich. Die Zahlen zeigen, wie sehr viele Menschen heute spüren, dass sie auf der Bremse stehen müssen. Und wie wichtig es ist, innezuhalten. Vielleicht ist genau das die Botschaft, die heute gefragt ist: Nicht mehr leisten, sondern mehr leben, nicht mehr hetzen, sondern mehr sein.
Momo, die Heldin aus Michael Endes Märchen, bekommt am Ende genau 60 Minuten geschenkt. In dieser Zeit befreit sie die Welt von den grauen Herren und bringt den Menschen die Lebensfreude zurück. Und was fangen SIE mit Ihrer Stunde an?!
P.S. Noch ein wenig biblische Inspiration gibt’s hier, denn alles hat seine Zeit:
Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon. Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen. Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende. Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. Denn ein Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes. Ich merkte, dass alles, was Gott tut, das besteht für ewig; man kann nichts dazutun noch wegtun. Das alles tut Gott, dass man sich vor ihm fürchten soll. Was geschieht, das ist schon längst gewesen, und was sein wird, ist auch schon längst gewesen; und Gott holt wieder hervor, was vergangen ist.
Kohelet 3, 1-15