Berührt sein, um andere zu berühren

Berührt sein, um andere zu berühren
Bild: pixabay.com, efes

Wie ein Blitz schlug kürzlich ein Video bei mir ein: Wie kann ein Mensch nur so sprühen vor Geist, Witz, Fantasie und Tiefgründigkeit? Das Filmportrait der aus Moldawien stammenden Geigerin Patricia Kopatchinskaja hat mich gepackt. Nicht nur weil die Geige mein Hobby ist und ich den Impuls verspürte, nach langer Zeit wieder einmal das Instrument in die Hände zu nehmen. Der Energie und Leidenschaft  der Künstlerin kann man sich einfach nicht entziehen, die Funken springen über, selbst durch das kleine Display eines schnöden Smartphones.

Patricia Kopatchinskaja konzertiert auf allen großen Bühnen der Welt und fasziniert über Länder- und Kulturgrenzen hinweg ihr Publikum. Bemerkenswert ist ihr unkonventionelles Auftreten: Sie steht barfuß im Konzertsaal, will die Bodenhaftung nicht verlieren, vielmehr auf einem guten Fundament gegründet sein. Über ihre frühen prägenden Erfahrungen in ihrem Heimatland sagt sie: Mein erster musikalischer Lehrer war der Regen mit seinen Tropfen und ich lernte Wichtiges über Atmosphäre vom Duft der Kerzen in unserer kleinen orthodoxen Kirche. Die Bewegungen und die Schatten der Flammen zeigten mir, wie man improvisiert. Flammen scheinen auch in ihren Augen aufzublitzen, wenn sie spricht oder spielt.

In einem Interview in Hamburg beschreibt sie die Herausforderungen, vor denen der Kulturbereich der klassischen Musik steht: „Die Menschen, die in die Konzertsäle kommen, kennen in der Regel die Stücke, die wir spielen. Die Musik ist nicht neu, vielmehr altbekannt für sie, wir können das Publikum nicht mehr überraschen. Deshalb dürfen wir nicht das Immergleiche wiederholen. Es gilt, als Künstlerin eine eigene Sprache in der Musik zu suchen, sonst sind wir Kopisten.“ Genau diese einzigartige Färbung hört man in ihrem so brillianten wie kreativen Spiel.

Die Parallelen zur Situation der Kirchen sind offensichtlich. Hier wie dort müssen neue Wege  eingeschlagen werden, um die Menschen zu erreichen. Mich inspirieren die Gedanken der Geigerin: Ihr sei es wichtig, zu zeigen, was in den oft gehörten Stücken an Überraschendem stecke:

„Wir sollten die Musik nicht glattbürsten, sondern das Nicht-Erwartbare, das Widerständige herausarbeiten.“

Überraschendes, Nicht-Erwartbares zu bieten, das ist ein wichtiger Impuls auch für kirchliches Handeln!

Über die Autorin

Daniela Engelhard ist Leiterin des Forums am Dom in Osnabrück. Bei der Arbeit in dieser Einrichtung der Citypastoral kommt sie mit vielen unterschiedlichen Menschen in Kontakt. Von Erlebnissen und Themen, die sie bewegen, berichtet sie in ihren Blogbeiträgen.

Nachdenklich macht mich auch dieser Hinweis: Sie wolle als Künstlerin sie selbst sein und sich nicht hinter den Noten verstecken. Es gelte, die eigene Seele zu öffnen mit ihren Wunden; etwas zu machen, was reif ist, aber nicht perfekt. Dieses Nicht-Perfekte bringt Patricia Kopatchinskaja auch durch ihre Kleidung zum Ausdruck: Sie trägt auf der Bühne nicht das perfekte Abendkleid, sondern Kleidung, bei der man Nähte und Schnitte sieht.

Die charismatische Musikerin ermutigt zur Risikobereitschaft und will nicht einen statuenhaften Klassikbetrieb aufrechterhalten. „Wir bleiben Menschen und machen Fehler. Es ist etwas Zerbrechliches, was wir machen“, so ihre Worte. Ganz besonders berührt mich, dass sie trotz ihres großen Könnens auch von ihrer Angst spricht. Von der Angst, der Verantwortung nicht gewachsen zu sein und nicht gut genug zu sein, ja sogar von Verzweiflung. Aber diese Verzweiflung sei ihr auch ein Antrieb.

Und die vielleicht größte Nähe zur kirchlichen Verkündigung und zur Seelsorge, wie sie sein sollten, zeigt sich in folgenden Gedanken von ihr:

Ich muss zuerst berührt sein, bevor ich andere berühren kann. Ich kann nicht etwas darstellen, was ich nicht bin. Ich erzähle nicht eine Geschichte, ich bin diese Geschichte.

Genau das spüre ich, wenn ich Patricia Kopatchinskajas Geigenspiel zuhöre. Sie lebt das, was sie sagt und mit ihrer Musik so fantasievoll ausdrückt: „Es bleibt ein Stück von meinem Herzen an jedem Ort, an dem ich spiele.“

Wer mag, findet hier eine Kostprobe:

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