Das Lesebuch der kleinen Prinzessin
Jedes Jahr nach den Sommerferien ist es wieder soweit – die ABC-Schützen starten in ihr erstes Schuljahr. Von den meisten wird der Tag zwar nicht ohne Sorge, aber dennoch fieberhaft herbeigesehnt: Endlich groß, endlich wird gelernt! Ganz oben auf dem Programm für die I-Dötze steht dabei Schreiben, Rechnen und – na klar – Lesen. Dass sich daran in den letzten 500 Jahren wenig geändert hat, zeigt eine einmalige Handschrift: ein Lesebuch für eine kleine Prinzessin.
Claude de France wird 1499 als Tochter des französischen Königs Ludwig XII. in Romorantin geboren. Nur sie und ihre elf Jahre jüngere Schwester Renée erreichen das Erwachsenenalter. Ihre Mutter Anne de Bretagne muss im Lauf der Jahre neun ihrer Kinder kurz nach der Geburt beerdigen. Vermutlich ist sie auch diejenige, die um das Jahr 1505 die Fibel für ihre älteste Tochter in Auftrag gibt, Texte und Bilder zusammenstellt und den Italiener Guido Mazzoni für die Ausführung auswählt.
Das Büchlein umfasst 20 Seiten und war vermutlich von Beginn an dazu gedacht, von der kleinen Erstleserin in die Hand genommen und wirklich genutzt zu werden. Der Text beginnt mit dem Alphabet, gefolgt vom Glaubensbekenntnis, dem Vaterunser, Tischgebeten, der Schöpfungsgeschichte, Adam und Eva, dem Ave Maria, Geburt und Anbetung der Könige und anderen grundlegenden religiösen Texten. Selbstverständlich alles in großer Schrift! Die Texte sind geschmückt mit 36 Bordürenbildern, goldenen Architekturbordüren, 12 Zierfeldern mit Blumenranken, Vögeln und Putten und 22 Initialen auf Goldgrund. Auch zwei Porträts der kleinen Besitzerin finden sich, jeweils eines am Beginn und eines am Ende.
Kinderbücher ÜBER das Mittelalter gibt es heute wie Sand am Meer. Im Mittelalter selbst waren sie aber eine echte Seltenheit. Die Kindheit wurde erst im 18. Jahrhundert als eigenständige Lebensphase „entdeckt“. Bis dahin galten Kinder als eine Art kleine Erwachsene, deren Leben je nach Stand, in dem sie hineingeboren wurden, vorgezeichnet war. So wurde die kleine Prinzessin bereits im Alter von sechs Jahren an Karl von Luxemburg, später Kaiser Karl V. versprochen. Die Gründe waren natürlich politisch: Eine Ehe mit dem Habsburger hätte die Bretagne davor gesichert, in den Besitz Frankreichs zu fallen. Dennoch wurde das Eheversprechen kurz darauf wieder annulliert und Claude – gegen den Willen der Mutter – mit Franz von Orleans verlobt, den sie 1514 heiratete. Im Jahr darauf bestiegen sie als Franz I. und Claude de France den französischen Thron. Damit wurde die Bretagne schließlich doch französisch, Karl V. und Franz I. erbitterte Feinde und Claude Mittelpunkt allerlei politischer Verwicklungen – und das alles vor ihrem 20. Geburtstag.
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Claude wird ihre Fibel sicher in Ehren gehalten und mit an den französischen Hof genommen haben. Möglicherweise lernten auch ihre Kinder damit das ABC und unternahmen ihre ersten Leseversuche. Lange begleiten konnte die junge Königin sie nicht: Sie starb im Alter von nur 24 Jahren, die Ursache für den frühen Tod ist unklar. In der Folge verliert sich auch die Spur ihrer Fibel. Sie taucht erst im 18. Jahrhundert in einer englischen Privatsammlung wieder auf. 1816 gelangt sie schließlich durch eine Schenkung in den Bestand der Universitätsbibliothek von Cambridge, wo sie sich noch heute befindet.