Der Blick nach Innen

Hand, die eine Brille hält
Bild: unsplash.com, hermes-rivera

In jener Zeit sah Jesus unterwegs einen Mann, der seit seiner Geburt blind war. Jesus spuckte auf die Erde; dann machte er mit dem Speichel einen Teig, strich ihn dem Blinden auf die Augen und sagte zu ihm: Geh und wasch dich in dem Teich Schiloach! Das heißt übersetzt: der Gesandte. Der Mann ging fort und wusch sich. Und als er zurückkam, konnte er sehen. Die Nachbarn und jene, die ihn früher als Bettler gesehen hatten, sagten: Ist das nicht der Mann, der dasaß und bettelte? Einige sagten: Er ist es. Andere sagten: Nein, er sieht ihm nur ähnlich. Er selbst aber sagte: Ich bin es.

Johannes 9,1-9

 

Wenn über einen Menschen gesagt wird, er oder sie betreibe Nabelschau, wird damit beschrieben, jemand kreise nur um sich selbst und die eigene Sicht auf diese Welt. Stellt man sich das mit diesem Wort Gesagte konkret vor, so ersteht vor dem inneren Auge das Bild eines in sich verkrümmten und verbogenen Menschen – irgendwie beeindruckend gelenkig, aber doch in der Wahrnehmung eingeschränkt.

Dabei muss dieses auf sich selbst fixiert sein nicht aus eigenem Antrieb erwachsen. Indem Menschen andere Menschen in Schubladen sortieren oder ihnen Fähigkeiten absprechen verhindern sie, dass die Betreffenden aufrecht leben und aufgerichtet in die Welt schauen. Sie ersticken das „Ich bin es“ im anderen durch vorgefasste Meinungen oder durch unumstößliche heilige Überlieferungen.

Das Bibelfenster

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Jesus durchbricht diese Isolation des Menschen: Er ermächtigt zu einer eigenen Sicht auf die Welt und das eigene Leben. Er verhilft zu einer Gesamtschau auf das Dasein. Jesus ermutigt so zu einer eigenen Welt-Anschauung! Das Evangelium beschreibt das auf eine eigentümliche Weise: Letztlich wird deutlich, dass die Ermächtigung zum eigenen Leben ein ganz intimer Vorgang zwischen Jesus und dem jeweiligen Menschen ist.

Das setzt aber einen anderen Blick voraus. Es ist – so merkwürdig wie das jetzt in diesem Zusammenhang klingen mag – der Blick nach Innen. Um die Welt wieder richtig wahrzunehmen, bedarf es der Schau in sich selber hinein. Das ist für viele Zeitgenossen ungewohnt. Im Blick nach Innen besteht die Möglichkeit, Jesus zu erfahren sowie die äußeren Gegebenheiten wieder neu zu sehen und richtig einzuordnen.

Vielleicht können diese Tage, die geprägt sind von den Auswirkungen des Coronavirus und den daraus resultierenden Einschränkungen des privaten und öffentlichen Lebens eine Einladung sein, eine neue Sicht zu gewinnen: auf sich selber, auf die anderen, auf diese Welt und auf Gott. „Ich bin es“: Wer das immer neu über sich sagen kann, der sieht weiter als andere …

Pastor Michael Lier