Der Weg nach Ostern
Am ersten Tag der Woche kam Maria von Magdala frühmorgens, als es noch dunkel war, zum Grab und sah, dass der Stein vom Grab weggenommen war. Da lief sie schnell zu Simon Petrus und dem anderen Jünger, den Jesus liebte, und sagte zu ihnen: Man hat den Herrn aus dem Grab weggenommen, und wir wissen nicht, wohin man ihn gelegt hat.
Johannes 20,1-2
Es ist früher Morgen. Maria von Magdala macht sich auf den Weg zum Grab. Wie die Evangelien berichten, war sie schon bei der Grablegung dabei; sie weiß, wohin sie gehen muss. Die Stadt schläft noch. Kaum einer ist unterwegs. Die Leere der Straßen ist wie ein Abbild ihres Herzens. Sie vermisst Jesus. Deswegen kann sie nicht einfach weiter schlafen, wie die anderen. Maria von Magdala ist Jesus schon nachgefolgt durch Galiläa – bis nach Jerusalem. Längst waren alle Männer geflohen, hatten sich in Sicherheit gebracht. Da ist sie geblieben, ist Zeugin der Kreuzigung geworden. Auch jetzt will sie Jesus suchen, ihn salben und berühren. Mit seinem Tod ist ihr alles genommen. Nun hat man ihr auch noch den Leichnam weggenommen. Keiner weiß, wohin man ihn gelegt hat.
Wer kann sich nicht in diesen Tagen in die Stimmung dieses frühen Morgens versetzen: Menschenleere Straßen – ein vertrautes, bedrückendes Bild. Das Virus kennt keine Feiertage, so heißt es. Am ehesten vielleicht doch den Karfreitag: erkrankte und sterbende Menschen in aller Welt; Bilder von Toten in Kühltransportern; der Schmerz der Hinterbliebenen, die ihre Angehörigen kaum mehr würdig begraben können. Die Not der Flüchtlinge in den Lagern – ohne Hygiene, ohne Abstand, ohne ausreichende Versorgung. Vielleicht kennt das Virus auch den Karsamstag: Das schmerzliche Vermissen; ängstliche Begegnungen, zurückgezogenes Warten. Ungewissheiten und Unsicherheiten säumen den Weg auch derer, die glauben und hoffen wollten.
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„Wir sind Karsamstagsmenschen“, sagt der Theologe Johann Baptist Metz*, „Menschen, die in einem ganz zeitlichen Sinn noch etwas zu erwarten haben, nicht nur für uns selbst, sondern auch für die Anderen, für die Menschheit.“ Da kommt also noch was! Wir sind auf dem Weg nach Ostern – wie Maria von Magdala. Und siehe da: In den Straßen, Avenuen und Boulevards schallt es in der Abenddämmerung von den Balkonen, Fenstersimsen und Terrassen: Sie singen, musizieren und tanzen; sie spenden Beifall denen, die pflegen und heilen, die spenden und nähen, helfen und trösten. Sie schlagen Töpfe und Pfannen gegen die Mächte des Todes. Hunger und Durst nach Gerechtigkeit, nach Leben und Gemeinschaft füllt die Straßen: Menschen, die noch etwas zu erwarten haben, nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Anderen, für die Menschheit.
Maria von Magdala ist auf dem Weg nach Ostern: Sie wird im Evangelium nach Johannes zur ersten Zeugin der Auferstehung. Eine wunderbar anrührende Szene, da sie Jesus erst erkennt, als er sie bei ihrem Namen ruft. Und sie antwortet: „Rabbuni!“, was so viel heißt wie: „Mein Meister“. „Halte mich nicht fest!“ sagt Jesus und sendet sie mit einer Botschaft zu den Brüdern. „Ich habe den Herrn gesehen“, verkündet sie denen. Maria von Magdala, Apostelin, Zeugin der Auferstehung. Wir haben da noch viel zu erwarten – auf dem Weg nach Ostern.
Gerrit Schulte, Diakon
*Johann Baptist Metz: Karsamstagschristologie. In: Mystik der offenen Augen. Hrsg. v. Johann Reikerstorfer. Herder Verlag. 2. Aufl. Freiburg i.Br. 2011. S. 158