Wo bist du?
Aber Gott, der HERR, rief nach dem Menschen und sprach zu ihm: Wo bist du? Er antwortete: Ich habe deine Schritte gehört im Garten; da geriet ich in Furcht, weil ich nackt bin, und versteckte mich. Darauf fragte er: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du von dem Baum gegessen, von dem ich dir geboten habe, davon nicht zu essen? Der Mensch antwortete: Die Frau, die du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben. So habe ich gegessen. Gott, der HERR, sprach zu der Frau: Was hast du getan? Die Frau antwortete: Die Schlange hat mich verführt. So habe ich gegessen. Da sprach Gott, der HERR, zur Schlange: Weil du das getan hast, bist du verflucht unter allem Vieh und allen Tieren des Feldes. Auf dem Bauch wirst du kriechen und Staub fressen alle Tage deines Lebens. Und Feindschaft setze ich zwischen dir und der Frau, zwischen deinem Nachkommen und ihrem Nachkommen. Er trifft dich am Kopf und du triffst ihn an der Ferse.
Genesis, 3, 9-15
Die erste Frage, die in der Bibel auftaucht, ist die im Paradies gestellte Frage an den ersten Menschen: „Adam, wo bist du?“ Mit dieser Frage will Gott nicht den äußeren Standort von Adam wissen, sondern seine innere Befindlichkeit. Adam und Eva haben von der verbotenen Frucht gegessen. Schmerzhaft werden sie konfrontiert: Mensch, wohin hast du dich treiben lassen, wohin hast du dich gebracht, was hast du gemacht?“ Und die Antwort des Menschen auf diese Frage ist das erste Wort, das in der Bibel ein Mensch an Gott richtet. „Da geriet ich in Furcht, weil ich nackt bin.“ Der, der eben noch in paradiesischer Unschuld lebte, steht jetzt beschämt und nackt vor seinem Schöpfer. Adam schämt sich. Es ist nicht die böse Absicht des Schöpfers, sein Geschöpf zu beschämen. Das Sich-Schämen ist die Folge des Fehltritts des Menschen.
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Sich-Schämen, das berührt den innersten Kern der Seele und tritt gleichzeitig nach außen, indem das Gesicht rot wird. So steht der Mensch vor Gott: nackt. Das zugeben zu müssen ist bitter. Wichtig für den weiteren Verlauf ist: Gott lässt sie nicht allein und nackt dastehen. Er gibt dem Menschen ein Kleid, das ihn vor fremden Blicken und vor dem eigenen Sich-fertig-Machen bewahrt. Gott geht bei aller Konsequenz der Strafe mit dem Menschen weiter mit, auch aus dem Paradies heraus. Gott schließt – im Bild gesprochen – die Tür des Paradieses von außen zu. So bleibt er beim Menschen, und der Mensch bleibt im Gewahrsam Gottes – bis in die Taufe hinein, in der der Menschen mit dem Gewand des Heiles bekleidet wird.
Es ist nicht auszuschöpfen, was sich in dieser ersten Begegnung von Gott und Mensch ereignet hat und bis heute die abgründige Tiefe Gottes und des Menschen sichtbar macht.
Pater Franz Richardt