Hass oder Liebe?

Kompass
Bild: unsplash.com, Ole Witt

In jenen Tagen machte Saul sich mit dreitausend Mann, ausgesuchten Kriegern aus Israel, auf den Weg und zog in die Wüste von Sif hinab, um dort nach David zu suchen. David und Ábischai kamen in der Nacht zu den Leuten Sauls und siehe, Saul lag mitten im Lager und schlief; sein Speer steckte neben seinem Kopf in der Erde und rings um ihn schliefen Abner und seine Leute. Da sagte Ábischai zu David: Heute hat Gott deinen Feind in deine Hand ausgeliefert. Jetzt werde ich ihn mit einem einzigen Speerstoß auf den Boden spießen, einen zweiten brauche ich nicht dafür. David aber erwiderte Ábischai: Bring ihn nicht um! Denn wer hat je seine Hand gegen den Gesalbten des Herrn erhoben und ist ungestraft geblieben? David nahm den Speer und den Wasserkrug, die neben Sauls Kopf waren, und sie gingen weg. Niemand sah und niemand bemerkte etwas und keiner wachte auf; alle schliefen, denn der Herr hatte sie in einen tiefen Schlaf fallen lassen. David ging auf die andere Seite hinüber und stellte sich in größerer Entfernung auf den Gipfel des Berges, sodass ein weiter Zwischenraum zwischen ihnen war. David sagte: Seht her, hier ist der Speer des Königs. Einer von den jungen Männern soll herüberkommen und ihn holen. Der Herr wird jedem seine Gerechtigkeit und Treue vergelten. Obwohl dich der Herr heute in meine Hand gegeben hatte, wollte ich meine Hand nicht an den Gesalbten des Herrn legen.

1 Samuel 26, 2.7–9.12–13.22–23 

 

Wann hat man so eine Gelegenheit? Dieser Lebensabschnitt Davids wird von seiner Beziehung zu Saul bestimmt. Schon öfters hat Saul versucht, David umzubringen. Ein weiteres Mal zieht er nun mit 3.000 ausgesuchten Männern los. Dieser Menschenmenge stehen zwei gegenüber, David und Ábischai. Für David ergibt sich ein zweites Mal in diesen Erzählungen die unglaubliche Möglichkeit: Der übermächtige Feind ist ihm ausgeliefert. Saul und all seine Leute schlafen. Für David und Ábischai wäre es ein Leichtes, den Verfolger Davids endgültig aus dem Weg zu schaffen; wie man im mittelalterlichen Latein sagte: mors tua, vita mea – dein Tod ist mein Leben.

Woran erkennt nun David, dass er diesmal – im Gegensatz zum Kampf mit Goliath – nicht dazu aufgerufen ist, dem Leben seines Gegenübers ein Ende zu setzen? Saul gehört selbst zu Israel, dem Volk Gottes, er ist der Gesalbte Gottes. Und diese Gewissheit, dass dieser Mensch, der ihm nach dem Leben trachtet, von Gott auserwählt ist, wird bei David nicht überdeckt von der Eile, der Aktion des Moments mitten zwischen 3.000 Männern, von der Todesgefahr, die von Saul für ihn ausgeht.

Das Bibelfenster

Hier kommentieren jede Woche Menschen aus dem Bistum Osnabrück eine Bibelstelle aus einer der aktuellen Sonntagslesungen – pointiert, modern und vor allem ganz persönlich.

Haben Sie eine Frage? Oder eine ganz andere Idee zum Thema?

Dann schreiben Sie uns!
An bibelfenster@bistum-os.de

Die Entscheidung Davids wirkt in dieser gekürzten Version der Geschichte (es fehlen die Verse 3-6.10-11.14-21) eindeutig. David mag um diese Entscheidung gerungen haben. Im entscheidenden Moment scheint er sein Gefühlsleben im Griff zu haben. Sein Kompass funktioniert: Trotz der Angst um sein Leben hört David auf sein Inneres. David hört auf Gott und nicht auf seinen Freund Ábischai. Er gebietet Ábischai Einhalt und lässt Saul am Leben. Und so lässt Gott ihn ziehen, indem er Saul und seine Leute in einen tiefen Schlaf fallen lässt.

In unserem aktuellen Kontext geht es meist nicht darum, Speer oder Schwert in die Hand zu nehmen. Es gibt allerdings auch heute Situationen, in denen ich mir selbst Gerechtigkeit verschaffen möchte und andere mir ausgeliefert sind. Auch in Wortgefechten und Diskussionen kann sich diese Dynamik ergeben: Wenn ich es schaffe, mein Gegenüber nicht mit Worten anzugreifen, wenn ich es innerlich kochend schaffe, dennoch sachlich zu argumentieren und wirklich zuzuhören, dann lasse ich mich nicht von Ábischais Worten leiten. Dann sehe ich im Mitmenschen nicht nur einen „Gegner“, sondern auch das Kind Gottes. Dann gewinnt nicht Hass, sondern Liebe.

Roberto Piani