Kraftort Stille

Frau schaut aufs Meer

Die einen sehnen sich in der derzeitigen Krise danach, die andern leiden unter zu viel davon: Stille. Womit derzeit viele im Alltag kämpfen, das ist für Schwester Ulrike normal. Sie gehört seit 36 Jahren zu den „Missionsschwestern vom Kostbaren Blut“ und Stille ist für sie ein wesentlicher Baustein ihres (Ordens-)Lebens. Im Interview spricht sie über den Wert der Stille und über Ideen, wie man sie finden oder überwinden kann.

 

Woher kennen Sie die Stille und was bedeutet sie Ihnen?

Das, was für mich Stille ist, das kenne und schätze ich so lange, wie ich denken kann. Stille beim Träumen unter einem Baum. Stille im Versteck hinter Büschen. Stille im heiligen Raum der kleinen Nachbarschaftskapelle. Stille der anbrechenden Nacht. Stille – ja, sie ist mir ein kostbarer, gar heilbringender Lebensraum, mit magischer Anziehungskraft, mit einem leisen, sanften Resonanzboden, der etwas in mir in Schwingung bringt. Die Stille lädt ein und ich lasse mich auf sie ein: um im Alleinsein das Laute abzuschütteln, um meinen Gedanken freien Lauf zu lassen, um mich einfach wohlig zurückzulehnen … Stille, einfach „sein“ im Jetzt – eine tiefe Seelensehnsucht in mir.

Was ist grundsätzlich der Wert der Stille?

Der Theologe und Philosoph Sören Kierkegaard hat einmal gesagt: „Wenn alles still ist, geschieht am meisten.“ Das ist für mich der wahre Wert der Stille. Es geschieht was! Stille ist keine „nichts passiert“-Zeit, sondern ein bunter „Chancen-Raum“. Die Chance, dem Hamsterrad unseres Lebens zu entkommen, einfach mal anzuhalten und Kraft zu tanken. Die Chance, das Geraune, Gedröhne und Gebrause dieser Welt, das sich in uns einzunisten versucht, zu durchforsten, zu sortieren, zu sammeln, aber auch verhallen zu lassen. Die Chance, sich auf das Wesentliche einzustimmen, auf das, was jetzt dran ist. Und so immer die Chance einer Begegnung: mit mir selbst, mit „meinem“ Gott, und dann auf tiefster Seinsebene mit seiner ganzen Schöpfung. Stille, einfach „eins sein“.

Wie kann man in diesen stressigen Tagen Momente der Stille finden?

Sr. Ulrike, Bistum Osnabrück
Sr. Ulrike ist Diplom-Psychologin und Therapeutin, pastorale Beraterin, geistliche Begleiterin und derzeit bei „KIM – Kirche in Meppen“ und in der Schulpastoral beschäftigt. Bild: privat

Momente der Stille im stressigen Alltag zu finden – das finde ich nicht immer einfach. Manchmal überhöre ich die leise Einladung der Stille, mich ein wenig auszuruhen. Es braucht Achtsamkeit, einen wachen Blick für meine Bedürfnisse, aber auch eine Entscheidung des „Das gönne ich mir jetzt!“ und den Mut, diesem Impuls trotz Anforderungen meines Alltags zu folgen. Gerade in Zeiten des Stresses kann die Stille Kraftort und Kraftzeit zur ganzheitlichen Entspannung sein.

Manchen Menschen mag es da gut tun, sich die Heimfahrt von der Arbeit bewusst durch einen Umweg zu verlängern. Für andere mag es wohltuender sein, allein (mit oder ohne Hund) in der Natur spazieren oder radeln zu gehen. Das Telefon mit WhatsApp und Corona-Nachrichten, Piepton und Benachrichtigungen einfach auf leise zu stellen, mag Räume der Stille öffnen. Aber selbst das Warten in der Schlange vor der Kasse, natürlich mit 1,5 Meter Abstand, kann geschenkte Zeit sein, eine Zeit zum „ich im Jetzt“. Ein Stille-Rezept für alle gibt es nicht. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt …

Wie schafft man das auch in den derzeit oft beengten Lebensverhältnissen?

Kreativität ist sicherlich dort gefragt, wo sich Menschen gerade in diesen Wochen zwangsläufig „auf die Pelle rücken“, weil sie zuhause bleiben müssen und wenige Rückzugsmöglichkeiten haben. Was tun?

Bisweilen hilft eine Flucht nach draußen, um allein an der frischen Luft aufzutanken oder an einem besonderen Ort, auf einer Bank oder in einem Kapellchen eine „Ich-Zeit“ zu genießen. Für manche kann der Rückzug in die Küche oder ein ausgiebiges Bad zu einer stillen Freiraum-Erfahrung werden. Den Lärm des PCs und Fernsehers abzustellen, kann wohltuende Stille schaffen. Ganz Mutige wagen es vielleicht sogar, sich miteinander „Stille-Aktionen“ in den eigenen vier Wänden zu überlegen – zum Beispiel eine Ecke im Haus, in der Wohnung als „Stille-Ort“ zu kennzeichnen oder eine bestimmte Zeit des Tages zur „Stille-Zeit“ für alle zu deklarieren. Übrigens fördert das auch den Respekt für die Bedürfnisse der anderen!

Wie kann man die Stille auch dann schätzen lernen, wenn es einem im Moment eigentlich zu still ist?

In diesen Tagen der Kontaktsperre sind viele Menschen alleine. Sie finden sich fast automatisch in einer Stille wieder, die vielleicht zu still ist und dadurch zu laut wird, denn in dieser Corona-Zeit kann sie existentielle Gefühle wie Sorge und Ungewissheit intensivieren und gedankliche Achterbahnen aus dem Ruder laufen lassen. Da melden sich Ängste, alt und neu, lautstark. Innerer Katastrophenalarm wird ausgelöst! Das Herz lärmt vor sich hin! Was kann ich tun?

Weitere Infos

  • Von Pilgern bis Exerzitien im Alltag, von spirituellen Wochenenden bis zu mehrtägigen Einzelexerzitien im Schweigen, von Auszeiten auf der Insel bis zu Besinnungstagen auf dem Fahrrad – geistliche Angebote für Anfänger und Fortgeschrittene finden Sie hier: bistum-osnabrueck.de/geistlich-unterwegs 

Gerade jetzt und allein dieses innere Tohuwabohu anzuschauen, ist vielleicht mit viel Beherztheit möglich. Da male ich so gut wie ich es kann das, was mich innerlich bewegt. Da schreibe ich raus, was in mir stürmt. Da höre ich Musik, die mich beruhigt. Da suche ich mir jemanden, mit dem ich – in aller Stille – über die Gedanken und Sorgen reden kann, bei dem oder der ich mich verstanden fühle. Das mag durchaus auch Gott sein. Eine Tasse Kaffee oder Tee mit Ihm zu trinken oder durch Gebete mein lärmendes Herz vor Ihm offen zu legen, das könnte gut tun. Es gilt: probieren geht über studieren!