Mittendrin. Leben mit Demenz

Familie
Bild: AdobeStock.com, Mediteraneo

Die Orientierung verlieren, sich selbst und vertraute Menschen nicht wiedererkennen: Die Diagnose Demenz stellt Betroffene und das gesamte soziale Umfeld vor neue Herausforderungen. Damit verbunden sind oft Schmerz, Wut und Hilflosigkeit bei allen Beteiligten. Die ökumenische Woche für das Leben rückt das Thema Demenz in den Mittelpunkt, denn es betrifft immer mehr Menschen: Die Zahl der demenziell Erkrankten steigt rasant. Christiane van Melis, im Bistum zuständig für Menschen im 3. und 4. Lebensalter, war selbst betroffene Angehörige und spricht im Interview über die Erkrankung.

Was raten Sie Menschen, deren Angehörige die Diagnose Demenz bekommen?

Christiane van Melis: Ich rate Angehörigen dringend dazu, sich über das Krankheitsbild gut zu informieren. In der Begleitung meines demenziell erkrankten und inzwischen verstorbenen Vaters habe ich es als entlastend erlebt, sein Verhalten einordnen zu können und zu wissen, dass sich sein Gehirn verändert hat und er daher nicht mehr auf alle Erinnerungen zugreifen konnte. Diese Erkenntnis war für uns wichtig, um uns nicht von seinem Verhalten provoziert zu fühlen, sondern zu erkennen, dass er sich krankheitsbedingt nicht anders verhalten kann und wir uns umstellen müssen. Es ist schwierig, wenn man die Veränderungen nicht akzeptiert und sich dann um Alltagsdinge streitet, die nicht streitbar sein müssten.

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Christiane van Melis

Christiane van Melis
Diözesanreferentin für das 3. & 4. Lebensalter
Domhof 12
49074 Osnabrück
0541 318-217
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Mir erscheint es sinnvoller, wenn die An- und Zugehörigen Betroffene in ihrer veränderten Welt begleiten. Es ist nicht hilfreich, zu erwarten, dass sie doch bitte wissen sollten, wer wer ist oder welchen Tag wir heute haben. Solche Orientierungsfragen überfordern, machen Angst. An vielen Orten werden Schulungen z.B. von Krankenkassen oder Bildungsträgern angeboten. Ich würde Angehörigen und Freunden dringend dazu raten, an solchen Schulungen teilzunehmen und damit leichter und bewusster auf die Veränderungen zuzugehen. Das kann viel Leid ersparen.

Was brauchen denn Menschen mit Demenz und wie funktioniert das mit dem Abholen und Begleiten in der „anderen Welt“?

Christiane van Melis: Sie brauchen Wertschätzung in ihrem Sein, wie sie sind. Eine Demenz verläuft in der Regel als schleichender Prozess, nicht von heute auf morgen. In diesem Prozess können alle lernen, damit umzugehen – wenn sie in Resonanz dazu gehen. Es heißt: „Das Herz wird nicht dement“.

Stichwort Demenz

Demenz ist der Überbegriff für zahlreiche chronische Gehirnerkrankungen, die vorrangig vom fortschreitenden Verlust des Gedächtnisses geprägt sind. Das Risiko für eine Demenz steigt ab dem 70. Lebensjahr exponentiell an. Nach Schätzungen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft leben 1,6 Millionen Menschen mit der Diagnose in Deutschland, und es wird mit einer Zunahme auf ca. 2,5 Millionen Betroffene bis 2050 gerechnet. Mit ihnen sind Millionen Angehörige und Pflegende betroffen. 

Das Emotionale, das „Herz“ der Betroffenen, verliert sich bei vielen Demenzerkrankten nicht oder als Letztes. Das ist eine Chance, sie weiterhin emotional zu erreichen und begleiten zu können. Dieses „Abholen“ kann auf vielfältige Weise geschehen. Bei meinen Verwandten haben sich Spaziergänge auf vertrauten Wegen, Lächeln und Berührungen als eine dankbare Brücke erwiesen. Ein Weg der Wertschätzung und Würdigung, der bei dem ansetzt, was die Person noch kann, erweist sich als wohltuend. Mit ein wenig Übung wird dies vielen Angehörigen gelingen.

Sänger hält Notenbuch
Gemeinsames Singen kann bei demenziell Erkrankten zu Entspannung führen.

Wenn sich die betroffene Person stark zurückzieht was raten Sie da?

Christiane van Melis: Es gibt bei einer Demenz generell große Rückzugstendenzen. Wenn es dem Umfeld gelingt, die demenziell erkrankte Person in ihrer inneren Sprache zu erreichen, braucht diese sich weniger zurückzuziehen. Ich hatte eine Tante, die immer gern im Chor gesungen hat. Ich habe häufig bei meinen Besuchen Lieder angestimmt und sie hat fast immer eingestimmt. Ein Anknüpfen an Dinge, die altbekannt und fest verankert sind, führt oft dazu, dass Personen innerlich ruhiger und dann entspannter werden.

Logo Woche für das Leben 2022

Die ökumenische Woche für das Leben

Sie stand in diesem Jahr unter dem Motto „Mittendrin. Leben mit Demenz“. Sie will auf die Situationen von Menschen mit Demenz aufmerksam machen und einen Umgang mit der Krankheit fördern, der Ängste abbaut.

Wie kann ich als Freundin oder Freund einer oder einem Angehörigen helfen, wenn ich den Eindruck habe, dass es ihr oder ihm schlecht geht mit der Situation?

Christiane van Melis: Ich würde ein Gespräch suchen und dafür einen guten Rahmen schaffen. Es tut gut, wenn Freund*innen zeigen und aussprechen, dass sie auch in belastenden Lebensphasen zur Seite stehen. Die Erkrankung eines Familienmitglieds ist eine schwerwiegende Situation für eine Familie. Oft zieht auch sie sich zurück. Eine Ermutigung sich weiterhin Zeit für wohltuende Dinge zu nehmen und auch frühzeitig Hilfe anzunehmen, wirken oftmals entlastend. Ich kenne schöne Beispiele, wo sich gut funktionierende Hilfe-Netzwerke gebildet haben. Freund*innen bieten da beispielsweise an, mit der betroffenen Person einen Spaziergang zu machen oder überlegen mit den Angehörigen, wie man sich externe Hilfe aus der Pflege holt. Nach meiner Einschätzung ist es wichtig, früh genug Unterstützungssysteme aufzubauen.

Was sagen Sie Menschen, wenn sie mit der Situation überfordert sind und sich einfach hilflos fühlen?

Christiane van Melis: Ich möchte sie ermutigen, sich Hilfe und Unterstützung zu suchen und diese zuzulassen. Nochmals: Meine Empfehlung ist, frühzeitig eine Schulung für dieses Krankheitsbild wahrzunehmen. Das ist der Grundstein dafür, dass Verhalten der demenziell veränderten Person einschätzen zu lernen. Ich kenne Familien, bei denen die Lage schlimmer wurde und die keinen guten Umgang fanden. Je frühzeitiger man sich mit der Krankheit auseinandersetzt, sich selbst umstellt und nicht davor wegläuft, desto größer die Chance, dass es nicht zu schwer wird. Außerdem rate ich dazu, sich als Pflegende auch zu schützen und die Belastung auf viele Schultern zu verteilen. Es gibt einen Punkt, an dem es schwer werden kann, die Situation zuhause fortzuführen. Dann kann auch eine stationäre Unterbringung eine gute Lösung sein.

Weitere Infos

Was bietet Kirche für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen?

Christiane van Melis: Die Sonntagsgottesdienste in unseren Kirchengemeinden ermöglichen eine Teilhabe bis ins hohe Alter. Gerade ältere Menschen kommen auch mit Demenz beim Besuch des Gottesdienstes, beim Hören der vertrauten Lieder und Gebete, zur Ruhe. Der Glaube und die Rituale können sich als Kraftquelle erweisen. Wir bieten Schulungen für Mitarbeiter*innen an, sensibler mit dem Thema Demenz umzugehen und offen auf betroffene Familien zuzugehen, damit sie möglichst lange am Gemeindeleben mit den demenziell erkrankten Personen teilnehmen können. In den Altenhilfe-Einrichtungen reagiert nicht nur die Pflege auf die steigende Zahl an demenziell Erkrankten, sondern auch die Seelsorge – beispielsweise mit speziell ausgerichteten Wortgottesdiensten. Außerdem ist die Seelsorge Teil von Netzwerken, die Begegnungsorte fördern. Außerhalb der Einrichtungen gibt es offene Angebote wie „Demenzcafés“ in den Osnabrücker Stadtteilen Voxtrup und Haste in Kooperation mit den Pflegediensten der Caritas. Die Auseinandersetzung mit dem Thema führt hoffentlich zunehmend zu einer wachsenden Demenzsensibilität der Kirche, so dass es Betroffenen gelingen kann „mittendrin“ älter zu werden.