Über Suizid reden

Über Suizid reden
Bild: pixabay.com, Andrew Poynton

Jedes Jahr sterben in Deutschland etwa 10.000 Menschen durch einen Suizid. Das sind mehr als durch Verkehrsunfälle, illegale Drogen und Aids zusammen. Die Zahl der versuchten Selbsttötungen ist sogar noch zehn bis zwanzig Mal höher! Und doch spricht kaum jemand über das Thema.

„Es gibt eine unglaublich große Berührungsangst – als würden die Leute meinen, sich anzustecken, wenn sie darüber reden“, sagt Christoph Hutter, Leiter der Ehe-, Familien-, Lebens- und Erziehungsberatungsstellen im Bistum Osnabrück. „Dazu kommt, dass viele Angst haben, einen Suizid erst herauszufordern, wenn sie darüber sprechen. Aber das ist Quatsch! Es hat sich noch niemand umgebracht, weil man mit ihm darüber gesprochen hat. Im Gegenteil: Reden hilft und ist eine der wenigen Strategien, die einen Suizid verhindern können!“

Suizid ist Alltag

Um das Thema zu enttabuisieren und die Sensibilität für betroffenen Menschen und ihre Nöte zu erhöhen, ist es wichtig, dass darüber gesprochen wird. Christoph Hutter: „Wir müssen in der Gesellschaft einen Raum eröffnen, in dem man mit dem Thema umgehen kann – wenn man selbst mit dem Gedanken spielt oder wenn man sich Sorgen um jemand anders macht. Und natürlich ist ein offener Umgang mit dem Thema auch wichtig für alle, die einen Angehörigen oder Freund*innen durch Suizid verloren haben.“

Zur Wortwahl

„Selbstmord“ oder „Freitod“ sind weitere Begriffe, um den Themenkomplex Suizid zu beschreiben. Auf dieser Internetseite sind jedoch durchgängig die Wörter Suizid oder Selbsttötung gewählt. Das geschieht bewusst, denn auch Experten*innen und Betroffene vermeiden andere Begriffe.
Der Begriff „Freitod“ vermittelt den Eindruck einer freien Willensentscheidung zum Tod, häufig in Verbindung mit edlen Motiven. Das beschreibt allerdings nicht die Situation von Menschen, deren Entscheidung von Ausweglosigkeit geprägt ist.
Mord ist eine schwere Straftat und bezeichnet das Töten von anderen aus niederen Beweggründen. Das hat nichts zu tun mit der Situation eines verzweifelten Menschen, der sich das Leben nimmt. Der Begriff „Selbstmord“ schädigt das Gedenken an die Toten. Hinzu kommt: Suizidtrauernde sind nicht Hinterbliebene einer Mörderin oder eines Mörders.

10.000 Tote durch Suizid pro Jahr – das bedeutet, dass sich durchschnittlich alle 53 Minuten ein Mensch das Leben nimmt. Selbsttötung ist ein alltägliches und kein Randphänomen. Das berichtet auch Christoph Hutter aus seinen Erfahrungen: „Überspitzt gesagt: Jeder Mensch hat Suizid-Gedanken, vor allem kommt keiner ohne solche Gedanken durch die Pubertät. ‚Ich kann nicht mehr, ich halte das nicht mehr aus, ich will endlich meine Ruhe haben‘ – das hat sicher jede*r schon mal gesagt. Der Wunsch nach Ruhe ist für mich schon eine Art der Todessehnsucht, aber die Spanne bis zu einem Suizidversuch ist natürlich groß. Zum Glück führen diese Gedanken bei den meisten Leuten nicht zum Äußersten. Bei vielen aber doch und deswegen muss man bei dem Thema immer genau hinschauen!“

Suizid ist nie eine leichte Entscheidung

Besonders gefährdet sind grob gesagt junge Menschen, alte Menschen und Männer. In keinem anderen Lebensabschnitt gibt es so viele Suizidversuche, wie vor Beendigung des 25. Lebensjahrs: Nach Unfällen sind Suizide hier die zweithäufigste Todesursache. Auch im Alter über 70 Jahren steigt die Suizidrate sprunghaft an. Besonders gefährdet sind in allen Altersgruppen die Männer: 75 bis 80 Prozent aller Suizidtoten sind männlich – sowohl in Deutschland, als auch weltweit.

eine Straße im NebelFür eine Selbsttötung gibt es ganz unterschiedliche Hintergründe: jugendliche Identitätskrise oder Lebenskrise in späteren Jahren, Schicksalsschläge oder Krankheit. Gleich ist oft: Suizid ist keine Kurzschlussreaktion, sondern eher ein Prozess und ist nie eine leichte Entscheidung, sondern immer der vermeintlich letzte Ausweg.

Christoph Hutter erläutert: „Aus philosophischer Sicht ist die Selbsttötung ein Akt der Freiheit. Darauf, wann und wie wir geboren werden, haben wir keinen Einfluss. Auf unser Sterben aber schon, wenn wir durch einen Suizid selbst darüber entscheiden. Klinisch gesehen hat ein Suizid allerdings nichts mit Freiheit zu tun, sondern ist in den allermeisten Fällen das Ergebnis eines Prozesses der Verengung: Ich sehe keinen Ausweg mehr, ich sehe niemand anderen mehr, nur noch mich und meine unlösbare Situation, die unweigerlich in einen Suizid führen muss.“

Suizidgedanken ernst nehmen und thematisieren

Weitere Infos

Damit es nicht so weit kommt, empfiehlt Christoph Hutter, das Thema ernst zu nehmen und offen damit umzugehen: „Wenn Sie ein komisches Gefühl oder einen Verdacht haben, sprechen Sie diesen konkret an. Nicht drum herum reden oder vermuten, sondern einfach fragen: Spielst du mit dem Gedanken, dich umzubringen? Wenn es auf diese Antwort kein klares Nein gibt, dann muss ich etwas unternehmen.“ Das heißt konkret: mit dem Menschen weiter darüber zu sprechen und gegebenenfalls sein Umfeld einzubeziehen, die Hausärzt*innen, Beratungsstellen. Genauso wichtig, wie über die Suizidgedanken zu reden, sei es, den Fokus immer wieder auf das Leben zu richten: Parallel zum Gespräch über das „Nicht-mehr-leben-wollen“ müsse es auch ein Gespräch über das „Leben-wollen“ geben. „Die gleichen Empfehlungen gelten im Übrigen auch für jemanden, die oder der selbst merkt, dass sie oder er suizidgefährdet ist“, fügt Hutter hinzu: „Sprechen Sie mit jemandem darüber!“