Das geht auf die Knochen
In jenen Tagen legte sich die Hand des Herrn auf mich und er brachte mich im Geist des Herrn hinaus und versetzte mich mitten in die Ebene. Sie war voll von Gebeinen. Er führte mich ringsum an ihnen vorüber und siehe, es waren sehr viele über die Ebene hin; und siehe, sie waren ganz ausgetrocknet. Er fragte mich: Menschensohn, können diese Gebeine wieder lebendig werden? Ich antwortete: Gott und Herr, du weißt es. Da sagte er zu mir: Sprich als Prophet über diese Gebeine und sag zu ihnen: Ihr ausgetrockneten Gebeine, hört das Wort des Herrn! So spricht Gott, der Herr, zu diesen Gebeinen: Siehe, ich selbst bringe Geist in euch, dann werdet ihr lebendig.
Ich gebe euch Sehnen, umgebe euch mit Fleisch und überziehe euch mit Haut; ich gebe Geist in euch, sodass ihr lebendig werdet. Dann werdet ihr erkennen, dass ich der Herr bin. Da sprach ich als Prophet, wie mir befohlen war; und noch während ich prophetisch redete, war da ein Geräusch: Und siehe, ein Beben: Die Gebeine rückten zusammen, Bein an Bein. Und als ich hinsah, siehe, da waren Sehnen auf ihnen, Fleisch umgab sie und Haut überzog sie von oben. Aber es war kein Geist in ihnen. Da sagte er zu mir: Rede als Prophet zum Geist, rede prophetisch, Menschensohn, sag zum Geist: So spricht Gott, der Herr: Geist, komm herbei von den vier Winden!
Hauch diese Erschlagenen an, damit sie lebendig werden! Da sprach ich als Prophet, wie er mir befohlen hatte, und es kam der Geist in sie. Sie wurden lebendig und sie stellten sich auf ihre Füße – ein großes, gewaltiges Heer.
Er sagte zu mir: Menschensohn, diese Gebeine sind das ganze Haus Israel. Siehe, sie sagen: Ausgetrocknet sind unsere Gebeine, unsere Hoffnung ist untergegangen, wir sind abgeschnitten. Deshalb tritt als Prophet auf
und sag zu ihnen: So spricht Gott, der Herr: Siehe, ich öffne eure Gräber und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf. Ich bringe euch zum Ackerboden Israels. Und ihr werdet erkennen, dass ich der Herr bin, wenn ich eure Gräber öffne und euch, mein Volk, aus euren Gräbern heraufhole. Ich gebe meinen Geist in euch, dann werdet ihr lebendig und ich versetze euch wieder auf euren Ackerboden. Dann werdet ihr erkennen, dass ich der Herr bin. Ich habe gesprochen und ich führe es aus – Spruch des Herrn.Ezechiel 37,1-14
In vielen Klöstern gibt es ein Beinhaus, ein Ossarium. Dort werden die Gebeine der verstorbenen Ordensleute aufbewahrt. Die Knochen werden aber nicht als einzelnes Skelett zusammengelegt, sondern getrennt gelagert. Hier die Schädel, dort die Oberschenkel, da die Unterarme. So gruselig wie das zunächst wirkt, wird doch damit versucht, dem Tod, dem Endgültigen eine neue Ordnung zu geben. Beeindruckend ist auch das Beinhaus von Douaumont, in welchem die Gebeine der nicht identifizierten Gefallenen aus der Schlacht von Verdun im Ersten Weltkrieg ruhen. Das unvorstellbare Grauen bleibt spürbar, dennoch geht eine mahnende Hoffnung davon aus.
Die derzeitige Pandemie mit ihren Einschränkungen verstärkt nicht nur die Krise, welche die Kirche durch Mitgliederschwund, Missbrauchsskandal und gesellschaftlichem Bedeutungsverlust sowieso schon erlebt. Hinzu kommt, dass auch viele Christinnen und Christen im persönlichen und gemeindlichen Alltag – nicht nur im vergangenen Jahr – die Erfahrung gemacht haben, dass sie mental auf dem Zahnfleisch kriechen. Ja, es scheint so, dass selbst das Zahnfleisch schon bis auf die Knochen durchgescheuert ist. Frust und resignative Stimmung; alles wirkt wie abgestorben. Der Traum vom guten Gestern wird erwartungsfroh auf das Morgen projiziert, weil das Heute so entmutigend ist.
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Die Lesung aus der Vorabendmesse von Pfingsten gibt diesem derzeitigen Lebensgefühl durch starke Bilder einen passenden Ausdruck. Das Bild eines unaufgeräumten Schlachtfeldes mit zahllosen Toten sowie das Gefühl der Leere und Hoffnungslosigkeit werden hier beschrieben.
Der Ich-Erzähler scheint sich davon aber gänzlich unbeeindruckt zu geben. Da zuckt keine Miene, da erschreckt kein Gemüt. Nüchtern beobachtet er und erstattet uns Heutigen seinen Bericht. Ungerührt stellt er fest: Tot ist tot!
Aber er hört die provozierende Frage: Was ist deine Hoffnung angesichts dieser Szene? Hast Du noch Mut, zu träumen und zu dichten?
Jedoch geht es nicht darum, wie im rückwärts laufenden Zeitraffer den alten Zustand wiederherzustellen. Was der lebendig machende Geist Gottes jetzt ermöglicht ist eine völlig neue Schöpfung der Welt und des Menschen.
Will auch ich mich solch einer Hoffnung anvertrauen? Will ich der Zusage glauben, dass das Leben selbst mich letztlich trägt?
Pfingsten zu feiern bedeutet, die Gewissheit zu haben, Teil einer gänzlich neuen Ordnung des Lebens zu sein. Der Alltag ist kein erschreckendes Beinhaus und das Leben bietet mehr als nur die bleichen Knochen abgestorbener Träume zu stapeln. Doch es braucht dazu Menschen, welche ihre Hoffnung mutig in die jetzige Zeit hinein sprechen. Dann geschieht wirklich Pfingsten!
Pastor Michael Lier