Der gute Hirte

Schäfer mit Schafherde
Bild: unsplash.com, Biegun Wschnodi

„Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe. Der bezahlte Knecht aber, der nicht Hirt ist und dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen, lässt die Schafe im Stich und flieht; und der Wolf reißt sie und zerstreut sie. Er flieht, weil er nur ein bezahlter Knecht ist und ihm an den Schafen nichts liegt. Ich bin der gute Hirt; ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne; und ich gebe mein Leben hin für die Schafe. Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind; auch sie muss ich führen und sie werden auf meine Stimme hören; dann wird es nur eine Herde geben und einen Hirten. Deshalb liebt mich der Vater, weil ich mein Leben hingebe, um es wieder zu nehmen. Niemand entreißt es mir, sondern ich gebe es von mir aus hin. Ich habe Macht, es hinzugeben, und ich habe Macht, es wieder zu nehmen. Diesen Auftrag habe ich von meinem Vater empfangen.“

Joh 10,11-18

 

„Ich bin der gute Hirt.“ Ein Wort, das wir auch heute noch auf Anhieb verstehen. Obwohl wir ja Hirten allenfalls noch im Urlaub zu Gesicht bekommen. Psychologen sagen dann, das Bild liege gleichsam in uns, ein archetypisches Bild, ein Urbild menschlicher Sehnsucht. Geborgenheit und Sicherheit, liebende Fürsorge klingen im Bild des Hirten an.

Das allein macht deutlich: Der gute Hirte ist kein Herrschaftsbild, das uns aufteilt in blökende Schafe und dominante Hirten, die uns sagen, wo es lang geht. Das könnte sich auch kein „echter“ Hirte in der Realität leisten. Ein Hirte, der auf die Bedürfnisse seiner Herde nicht achtet, bekommt bald Probleme. Tiere, deren Durst nicht gestillt wird, brechen aus der Herde  aus. Herden, die einmal wild geworden sind, bringt kein Hirte mehr zur Ruhe. Und wenn ein Hirte Wenden oder Kurven zu eng zieht, dann folgt ihm die Herde nicht, sie geht einfach über ihn hinweg. Der gute Hirte ist deshalb – wenn wir es von der Praxis des Hirtenberufes her betrachten – kein Bild, kein Symbol eines unberechenbaren Herrschers, der sich mit aller Macht über oder gar gegen seine eigene Herde stellt. Es ist vielmehr ein Bild vom Dienst an den Grundbedürfnissen der Herde, ein Bild der Fürsorge. Dem entspricht auch die innige Gemeinschaft, von der Jesus spricht: Ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich.

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Das Amt des Hirten ist aber offenbar ebenso alt wie sein Missbrauch. Schon im Ersten Testament erheben sich kritische Stimmen. Beim Propheten Ezechiel heißt es: „So spricht Gott, der Herr: Weh den Hirten Israels, die sich selbst geweidet haben. Müssen die Hirten nicht die Schafe weiden? Das Fett verzehrt ihr und mit der Wolle kleidet ihr euch. Das Mastvieh schlachtet ihr. Die Schafe aber weidet ihr nicht. Die Schwachen habt ihr nicht gestärkt, das Kranke habt ihr nicht geheilt, das Verletzte habt ihr nicht verbunden, das Vertriebene habt ihr nicht zurückgeholt, das Verlorene habt ihr nicht gesucht; mit Härte habt ihr sie niedergetreten und mit Gewalt.“ (Ezechiel 34,2-4)

Anselm Grün, der bekannte Buchautor und Benediktiner, nennt das Bild des guten Hirten denn auch eine „Gewissenserforschung, wie weit wir in unserer Pastoral (Seelsorge=Hirtenarbeit) oder überhaupt in unserer Sorge und Hilfe für andere eher den Lohnarbeitern gleichen, denen letztlich nicht am Schicksal der Schafe liegt, oder den Dieben und Räubern, die sie für sich selbst benutzen, die in der Seelsorge ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen, oder dem Fremden, der mit Gewalt eindringt in das Innere des anderen und seine Seele verwüstet, indem er sie in Angst versetzt.“ (Anselm Grün. Jesus – Tür zum Leben. Das Evangelium des Johannes. Kreuz Verlag S. 92) Jeder, der sich in Seelsorge, Therapie und Begleitung für andere einsetze, kenne doch die Gefährdung des geistlichen Missbrauchs, fügt Anselm Grün hinzu, der auch geistlicher Leiter des Recollectio Hauses der Abtei Münsterschwarzach ist.

Ein weiterer Aspekt des Bildes vom guten Hirten ist in heutiger Zeit ebenso wichtig: Die hebräische Schrift spricht ganz selbstverständlich auch von Frauen als Hirtinnen. Im Buch Genesis wird die schöne Geschichte erzählt von Jakob, der an einem Brunnen auf freiem Feld Rahel, die Tochter Labans, kennenlernt. Aus dem Brunnen tränkte man die Herden. Während Jakob sich noch mit den Leuten dort unterhält, so heißt es da, war Rahel mit den Schafen und Ziegen, die ihrem Vater gehörten, eingetroffen: „Denn sie war Hirtin!“ (Genesis 29,9) Rahel wird die Söhne Josef und Benjamin gebären und Erzmutter Israels genannt werden.

Diakon Gerrit Schulte