Erinnerung braucht Orte

Ein Haus in Kreisau
Ein Haus in Kreisau Bild: privat

Vor einigen Wochen war ich mit Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Klosters Esterwegen in Kreisau/Polen. Wir waren an dem Ort des sogenannten Kreisauer Kreises. Schon lange hatte ich den Wunsch, auf den Spuren dieser Frauen und Männer des Widerstandes zu gehen, die nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 von der Gestapo verhaftet wurden. Viele von ihnen wurden hingerichtet.

Der Kreis setzte sich aus Menschen sehr unterschiedlichen politischen und weltanschaulichen Überzeugungen zusammen. Ob Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Zentrumsvertreter, evangelische und katholische Theologen wie Dietrich Bonhoeffer und die Jesuitenpatres Alfred Delp, Augustin Rösch und Lothar König, Völkerrechtsexperten, Militärs, Juristen: Sie alle machten sich in geheimen Treffen Gedanken über eine politische, wirtschaftliche und soziale Neuordnung Deutschlands. Wie kann eine europäische Nachkriegsordnung aussehen? Drei Tagungen fanden in diesem Berghaus der Familie von Moltke von Kreisau statt. Die Treffen dienten dazu, sich auf gemeinsamen Perspektiven für Deutschland in Europa nach Hitler zu verständigen.

Bahnhof Kreisau

Für uns war der Besuch eine besondere Erfahrung. Wir waren an einem Ort, wo nicht nur Überlegungen diskutiert und entsprechende Resolutionen verfasst wurden. Wer an diesem Ort war, musste mit Verfolgung und Hinrichtung rechnen. Der kleine Bahnhof von Kreisau ist mir da besonders in Erinnerung geblieben. Wer hier einstieg, lebte mit einer Überzeugung, die wir nicht vergessen dürfen.

Über den Autor

Theo Paul ist Domkapitular und unter anderem für die Krankenhäuser, Klöster und geistlichen Orte im Bistum Osnabrück zuständig. In seinen Blogbeiträgen greift er gerne aktuelle Themen auf.

Kreisau ist ein Lernort, wo Menschen aus ganz Europa und darüber hinaus eingeladen sind, in eine kritische Auseinandersetzung mit der Leidensgeschichte der Völker und einer Sensibilisierung für die eigenen, für die Leiden von heute einzutreten. Es gibt kein fremdes Leid. Erinnerungsarbeit muss in jeder Generation neu geleistet werden. Es geht nicht um eine Fixierung auf Vergangenes, sondern um Wachsamkeit und Wahrhaftigkeit gegenüber jeder Form von Menschenverachtung und Menschenfeindlichkeit hier und heute. So zeigen die aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen: Friedensarbeit und Erinnerungsarbeit sind nicht mit einem bestimmten Ereignis abgeschlossen, sondern permanenter kontinuierlicher Auftrag. Erinnerung braucht Orte, die von Gruppen und einzelnen betreut werden. Neben Gedenktagen mit ihren Reden braucht Erinnerung die kontinuierliche Präsenz von Einzelnen und Gruppen, die sich mit ihren internationalen und europäischen Bezügen einbringen.

Uns hat in Kreisau besonders das christliche Zeugnis von Frauen und Männer beeindruckt, die sich die christliche Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde auch im Angesicht von Verfolgung und Tod nicht haben nehmen lassen.

2 Kommentare zu “Erinnerung braucht Orte

  1. Danke für diese Gedanken zu einer wunderbaren und eindrücklichen Reise. Was mich nachhaltig beschäftigt ist, dass Menschen, so unterschiedlich im Denken, Glauben und in den persönlichen Interessen, es doch schaffen, sich einer gemeinsamen Aufgabe und einem gemeinsamen Ziel zu verpflichten. Das halte ich für echte Größe.
    Und genau das ist es, was ich heute oftmals in Politik, Kirche und Gesellschaft vermisse, ja, fast ist es umgekehrt. Vielfach geht es nicht um die konkrete Meinung, nicht um das gemeinsame Anliegen, sondern darum, wer es sagt. Die Energie und Überzeugungskraft, die dabei leicht verloren gehen, haben die Kreisauer Widerstandskämpfer in die Waagschale ihres gemeinsamen Anliegens gelegt und damit Wesentliches geschaffen – für uns alle.

  2. Danke für diese Gedanken zu einer Erinnerungskultur, die sowohl erinnert als auch nach Konsequenzen für unser Leben und Handeln heute fragt.
    Genau dies versuchen wir im AK Johannes Prassek in der Pfarrei Christus König in Osnabrück durch unterschiedliche Aktionen und Gottesdienstformen zu verlebendigen.
    Für das 20 jährige Bestehen unseres AK im Jahr 2025 ist eine Fahrt nach Auschwitz, Kreisau und Berlin überlegt. Der Blogbeitrag hat uns da nochmal bestärkt ! Ganz lieben Dank !

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