Ohne Vergebung keine Zukunft

Peace-Zeichen
Bild: unsplash.com, Claudio Schwarz

Am 27. Januar ist der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Am 2. Februar 1945 wurde der Jesuit und Widerstandskämpfer Pater Alfred Delp in Berlin-Plötzensee hingerichtet. An diese beiden Ereignisse muss ich denken, wenn ich die Entwicklungen in der Ukraine sehe. Die Spirale des Krieges geht weiter. Tausende von Menschen auf ukrainischer und auf russischer Seite kostet der Krieg das Leben. Viele Milliarden Euro und Rubel werden ausgegeben allein für Rüstung. Kostbare Zeit geht verloren, um gegen den Hunger in der Welt und den Klimawandel vorzugehen. Jahrzehntelange Versöhnungsarbeit wird zerstört. Was können wir tun?

Immer wieder wird mir in Gesprächen die Frage gestellt: Wie kann der Krieg in der Ukraine beendet werden? Einen Verlierer dürfe es doch nicht geben.

Ich werde mich nicht in militärstrategische Gefilde begeben. Dafür gibt es Fachleute. Auch hilft es nicht weiter, wenn wir uns auf eine Seite schlagen. Das ist der fatale Schritt der russisch-orthodoxen Kirche mit ihrem Patriarchen Kyrill. Er lässt sich von den russischen Kriegstreibern instrumentalisieren und verrät die Friedensbotschaft des Evangeliums.

Ich bin dankbar, dass Papst Franziskus sich als Brückenbauer zu den verschiedenen Konfliktparteien verhält. Dafür wird er auch immer wieder kritisiert. Auch nehme ich seine große Sorge wahr, sich in politisch-militärischen Strategien zu verlieren. Das ist nicht Aufgabe der Kirche. In diesen Tagen der großen Ratlosigkeit und des schrecklichen Sterbens ist es wichtig, grundsätzliche Dimensionen in Erinnerung zu rufen und wachzuhalten, die im Lärm des Kriegsalltags unterzugehen drohen. Dazu gehört für mich auch die unverzichtbare Haltung der Vergebung. Wir werden als Menschheit keine Zukunft haben, wenn wir nicht auch eine Sensibilität für Vergebung entwickeln und bewahren.

Dabei ist klar: Vergebung bedeutet nicht Ignoranz oder Vertuschung. Es ist ein Weg der Humanität, wenn Kriegsverbrecher zur Verantwortung gezogen werden, wenn Opfer größtmögliche Gerechtigkeit zuteilwerden. Vergebung kann man nicht verordnen oder mit religiösen Übungen forcieren. Vergebung ist ein Schritt elementarer Freiheit und menschlicher Stärke. Vergebung braucht Zeit. Ich muss an das Buch des französischen Journalisten Antoine Leiris denken. Er hat seine Frau Hélène am 13. November 2015 in einem Pariser Club durch einen Terroranschlag verloren und ist mit dem gemeinsamen Sohn Melvil zurückgeblieben. Das Buch trägt den Titel: „Meinen Hass bekommt ihr nicht.“

In diesem Buch findet sich auch ein an die Täter gerichteter Text:

Freitagabend habt ihr das Leben eines außerordentlichen Wesens geraubt, das der Liebe meines Lebens, der Mutter meines Sohnes, aber meinen Hass bekommt ihr nicht. Ich weiß nicht, wer ihr seid, und ich will es nicht wissen, ihr seid tote Seelen. Wenn der Gott, für den ihr blind tötet, uns nach seinem Ebenbild geschaffen hat, dann muss jede Kugel, die den Körper meiner Frau getroffen hat, eine Wunde in sein Herz gerissen haben. Nein, ich werde euch nicht das Geschenk machen, euch zu hassen. Auch wenn ihr es darauf angelegt habt; auf den Hass mit Wut zu antworten würde bedeuten, derselben Ignoranz nachzugeben, die euch zu dem gemacht hat, was ihr seid. Ihr wollt, dass ich Angst habe, dass ich meine Mitbürger misstrauisch beobachte, dass ich meine Freiheit der Sicherheit opfere. Verloren. Der Spieler ist noch im Spiel.

aus: Antoine Leiris, Meinen Hass bekommt ihr nicht, München 2016, Seite 59-61

Antoine Leiris konfrontiert sich mit Zorn und Hass. Er weicht der Enttäuschung, der Wut nicht aus. Er hat keine reflektierte Strategie, in der er seine Möglichkeiten und seine Grenzen absteckt. Für ihn ist entscheidend: Ich lasse nicht zu, dass ein weiteres, neues Leben vergiftet wird. Dies kann die Aufgabe der Kirche mit christlichen Friedensprojekten sein, die Vergebungsperspektive einzubringen und wachzuhalten, etwas gegen die Vergiftung in den verschiedensten Bereichen unseres gesellschaftlichen nationalen wie globalen Kontextes zu tun.

Über den Autor

Theo Paul ist Domkapitular und unter anderem für die Krankenhäuser, Klöster und geistlichen Orte im Bistum Osnabrück zuständig. In seinen Blogbeiträgen greift er gerne aktuelle Themen auf.

Das geschieht nicht erst durch große Erklärungen, sondern durch das Stellen der richtigen und wichtigen Fragen und durch die Ermutigung der Brückenbauinitiativen, die es zu fördern gilt, damit sie gerade jetzt durchhalten. Gerade jetzt sind Partnerschaften mit russischen Städten und Initiativen mit ukrainischen Organisationen und Regionen von außerordentlicher Bedeutung. Natürlich werden wir auch die Diskussion bekommen, wie man jetzt diese Verbindungen, diese Versöhnungsinitiativen weiterführen kann. Dazu ist sicherlich eine selbstkritische Reflektion nötig. Aber eines gilt auch in diesen Tagen. Wo man sich einsetzt, setzt man sich aus. Wo man Versöhnungsarbeit gestaltet, bekommt man auch dreckige Hände. Wer nur auf saubere Hände bedacht ist, wird nichts bewirken.

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