Wenn die Welt verschwimmt

Wenn die Welt verschwimmt
Bild: pixabay.com, vinsky2002

Ich sitze mit meinem Vater in der Frühlingssonne. Wir haben eine freie Bank unter seinem Lieblingsbaum im Park des Pflegeheims gefunden und genießen das frische Blätterdach. Eine Frau aus dem Bereich Betreutes Wohnen kommt auf uns zu. Sie ist gut zu Fuß und hat es sich zur Aufgabe gemacht, noch einsamere Menschen als sie selbst, zu unterhalten.

Sie nickt meinem Vater freundlich zu und scherzt: „Na, Sie haben ja heute schon Besuch. Dann setze ich mich zu Herrn M.“ Der Mann auf der Bank neben uns wird unruhig. Die Dame müht sich um Konversation, redet auf ihn ein und weil er hartnäckig schweigt, wird sie drängender. „Nein!“, ruft der alte Mann plötzlich und schlägt um sich. Die Frau steht erschrocken auf. „Dann eben nicht!“, meint sie ärgerlich und stapft davon. „Hier ist es nicht mehr schön“, sagt mein Vater. Der alte Herr schaut zu uns hinüber: „Die will mich heiraten, aber sie kriegt mich nicht! Die nicht!“

Weitere Infos

Die Diagnose Demenz stellt Betroffene und ihr soziales Umfeld vor große Herausforderungen. Die ökumenische Woche für das Leben vom 30. April bis 7. Mai 2022 rückt das Thema in den Mittelpunkt, denn es betrifft immer mehr Menschen. Mehr dazu erfahren Sie hier.

Demenz hat viele Facetten. Manchmal ist sie komisch, oft rührend, aber meistens verunsichert sie alle Beteiligten. Vor allem die Direktheit, das Unverstellte beeindrucken immer wieder. So wie dieses Selbstbewusstsein des über Neunzigjährigen: Wenn eine Fremde seinen Bereich durchbricht, ist das zu nah. Wie ein Antrag, den man nicht erwidern möchte. Eigentlich gut zu verstehen. Ich lerne, dass die Welt von Demenzkranken in Scherben geht und sich ganz neu wieder zusammensetzt. Oder eben auch nicht. Dann bleiben nur Fragmente und die machen Angst. Und sie verändern. „Die Welt verschwimmt“, sagt mein Vater, „ich kann sie nicht halten.“ Sicher bleibt nur das Unmittelbare: Ich bin da, er hält meine Hand. Der Wind ist spürbar, die Katze, die den Weg kreuzt, bekommt Aufmerksamkeit, so wie das frischbepflanzte Beet.

Vor seinem Tod haben wir die freundliche Seite der Demenz kennengelernt. Das ist nicht selbstverständlich und vielleicht konnten auch nur wir sie sehen. Vermutlich hat sie viele andere sehr angestrengt. Oft dachte ich, wenn ich ins Pflegeheim kam: „Hier sind lauter seltsame alte Menschen – und mein Papa.“ 

Über die Autorin

Martina Kreidler-Kos ist Leiterin des Osnabrücker Seelsorgeamts. Ihr liegen die großen Fragen der Kirche am Herzen – aber auch die kleinen, alltäglichen und nur scheinbar nebensächlichen Dinge.

Bleibt nur, inständig zu hoffen, dass jeder und jede wenigstens jemand hat, der sich nicht wundert. Weil er den geliebten Menschen inmitten aller Veränderungen noch sehen kann.

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