Zwischen allen Stühlen
Der 24. Februar 2022, der Tag als der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine begann, war eine Zeitenwende – in der Weltpolitik genauso wie im Leben von vielen einzelnen Menschen – wie dem von Anna und Anastasia, deren Heimat Russland zu einem Land des Schweigens wurde.
Seit dem 24. Februar sitzen sie zwischen allen Stühlen: Anna und Anastasia, zwei junge Frauen aus Russland, die seit drei beziehungsweise eineinhalb Jahren hier in Deutschland leben. Sie sind nicht für Putin und den Krieg, den Russland in der Ukraine führt. Aber natürlich hängen sie auch an ihrem Heimatland. „Mein Russland ist jetzt das Russland der Opposition“, sagt Anastasia.
Weitere Infos
- Ein Jahr Kriegsbeginn: Weitere Texte zum Thema finden Sie hier
- Friedensgebete: Ein Politisches Nachtgebet am 23. Februar um 19.30 Uhr in der Kleinen Kirche am Dom in Osnabrück und das Friedensgebet der ukrainischen Gemeinde am 24. Februar um 14.00 Uhr im Dom. Weitere Infos hier.
- Russlandhilfe: Der Caritasdiözesanverband hilft mit dem Projekt „Eine Kuh für Marx“ unter anderem bedürftigen Familien in Russland und unterstützt auch die Caritas dort. Weitere Infos gibt es hier.
Gekommen sind sie damals für das Freiwilligenprogramm des Bistums Osnabrück. Jetzt arbeitet Anna als Lehrerin an einer katholischen Schule in Osnabrück und studiert gleichzeitig an der Uni. Anastasia hat ihren Freiwilligendienst, für den sie aus dem Norden Russlands hierher kam, verlängert. Denn seit dem Angriff des russischen Militärs auf die Ukraine veränderte sich in ihrem Heimatland viel und das nicht zum Guten.
Anfangs gab es noch Proteste gegen den Krieg, mittlerweile werden alle verhaftet, die auch nur ein weißes Blatt Papier öffentlich vor sich hertragen, erzählen die beiden Frauen. Ein Freund von Anastasia, er heißt Vsevolod Korolev, hat im Frühjahr 2022 einen kritischen Post bei VKontakte, einem russischen sozialen Netzwerk, geschrieben und sitzt deswegen seit Juli im Gefängnis. Dazu kommt: Die Zivilgesellschaft ist kaum noch vorhanden, viele Organisationen aus dem nichtstaatlichen Bereich wurden verboten, wie Memorial, die sich seit vielen Jahren für die Aufarbeitung der Stalin-Diktatur einsetzen. Andere werden vom Staat wegen nichtiger Dinge mit Prüfungen oder Strafen überzogen.
Seit Kriegsbeginn haben sie viel mit Freunden und Familien, in Deutschland und in Russland über die Situation gesprochen, sagt Anna, die aus St. Petersburg stammt. „Es war sehr emotional“, sagt sie. Am Tag des Kriegsbeginns selbst war sie in Hamburg, im russischen Generalkonsulat, um sich ihren neuen Pass abzuholen. Dort sah sie eine Gruppe Ukrainer*innen, die gegen den Krieg demonstrierten. „Ich hatte vorher nicht geglaubt, dass Putin die Ukraine auf diese Weise angreift. Jetzt wurde mir klar, dass die Welt nie mehr dieselbe sein würde“, sagt sie. Ein paar Tage später waren Anna und Anastasia selbst unter den Demonstrierenden – in Berlin, bei einer großen Antikriegs-Kundgebung.
Besonders schlimm finden die beiden die Propaganda in ihrem Heimatland, die großen Plakate zum Beispiel mit dem Z als Zeichen des Sieges über das Nachbarland. „Fake News“ vergifteten die Herzen und Hirne, wenn sie immer und immer wieder falsche Gründe für den Krieg nennen, wie dass die Ukraine von „Nazis“ kontrolliert werde, die man bekämpfen müsse. Überdies darf man in Russland öffentlich nicht von einem Krieg sprechen – es heißt dort, es werde eine „Spezialoperation“ durchgeführt. Anna ist überzeugt davon, dass viele der Soldaten nicht wüssten, was sie in der Ukraine sollten und auf was sie sich dort einlassen. Auch über das Leben im Westen verbreiteten die russischen Medien Lügen: „Mein Opa hat mich neulich gefragt: Hast Du überhaupt warmes Wasser?“ sagt Anastasia. „Oder wir hören aus Russland oft Fragen, wie: Friert ihr nicht, ohne das russische Gas? Oder habt ihr überhaupt Lebensmittel?“, ergänzt Anna.
Mit manchen ihrer Freunde und Verwandten dort könne man sich über das Thema nicht mehr unterhalten. Überhaupt spreche man in Russland nicht darüber – zumindest nicht öffentlich. Im Land herrsche ein großes Schweigen, diese Erfahrung haben Anna und Anastasia gemacht, als sie über Weihnachten und Neujahr zu Hause waren, um nach mehreren Monaten einmal wieder ihre Eltern sehen zu können. „Auf die Dauer könnte ich so nicht leben“, sagt Anna und Anastasia nickt.