Die Sehnsucht als Anfang

Vater mit Kind
Bild: unsplash.com, Derek Thomson

Es ist Corona-Sommer und alle denken darüber nach, wie es weitergehen wird. Auch mit der Kirche. Wie wird es ihr ergehen mit all den Austritten und Abstandsregeln, mit dem Digitalisierungsschub und den Entfremdungserscheinungen durch die Abstinenz der letzten Wochen? Mir fällt eine berührende Szene ein – die tatsächlich schon einige Zeit zurück liegt:

Eine blasse ältere Frau steht auf dem Kirchplatz. Ihr Mann plaudert gerne mit den anderen Leuten, sie sagt kaum je ein Wort. Gewöhnlich wird sie einfach übersehen. Aber an diesem Sonntag nicht. Heute ist etwas anders. „Gott sei Dank!“, ruft sie, fast ein bisschen zu laut in die Runde. „Unser Enkelkind ist geboren. Es ist ein Junge, Ben heißt er!“ Sie leuchtet von innen, alles an ihr schwirrt vor Freude. Man sieht, dass etwas in ihr Leben gekommen ist, wonach sie sich gesehnt hat. Und dass es fortan etwas gibt, wofür sie wach, sichtbar und energiegeladen sein will.

Über die Autorin

Martina Kreidler-Kos ist zuständig für die Ehe- und Familienseelsorge. Natürlich liegen ihr diese Themen besonders am Herzen – aber nicht nur. Sie hat im Alltag ein wachsames Auge. Denn dort trifft sie auf große Dinge oder nur scheinbar kleine Nebensächlichkeiten.

„Alles beginnt mit der Sehnsucht…“ an diesen Satz von Nelly Sachs muss ich denken. Er führt mich immer wieder dahin, wo alles anfängt: tief in mein eigenes Herz. Ich kann mir über Spiritualität tausend Gedanken machen: Ob ich Zeit dafür finde, ob es einen hübschen Ort gibt, einen Kurs, einen Text, eine Form, die mir zusagt. Das ist alles nicht so wichtig. Die Frage, die entscheidet, ob ich mich aufmache, lautet: „Sehnst du dich?“ Ich weiß, dass Ben heute neun Jahre alt ist, zwei Schwestern und eine wunderbare Großmutter hat. Ich weiß, dass aus Sehnsucht Großartiges erwachsen kann. Nelly Sachs hatte recht. Mit Sehnsucht fängt alles an. Auch eine erneuerte Kirche.

 

Ein Kommentar zu “Die Sehnsucht als Anfang

  1. Sehnsucht beginnt nicht im Kopf, sie will gefühlt und auch ausgehalten werden. Wenn wir ihr keinen Raum in uns geben, bleibt sie flüchtig. Wenn wir aufmerksam bleiben für das, wonach wir uns sehnen, werden wir von einer lebendigen Freude erfüllt, so wie diese ältere Frau.
    Es ist traurig, das unsere Kirche keinen Raum lässt für die Sehnsucht der Menschen nach Veränderungen für eine wirklich geschwisterliche Kirche. Stattdessen hält die Kirche an ihren Machtstrukturen fest und lässt es zu, dass zahlreiche Menschen ihr als Enttäuschte den Rücken kehren. Wie kann angesichts einer so verkrusteten kirchlichen Hirarchie die Botschaft des Evangeliums die Menschen überhaupt noch erreichen?

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