In den vergangenen Tagen habe ich angesichts des Ukrainekrieges verstärkt nach Orientierung und Perspektiven gesucht. Mir ist dabei das Buch des Trappisten und Pazifisten Thomas Merton „Gewaltlosigkeit“ aus dem Jahr 1971 wieder in die Hände gefallen. In den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts habe ich dieses Buch mit großer Begeisterung gelesen.
Thomas Merton war ein kluger Denker der Gewaltlosigkeit. Seine große Sorge war ein möglicher Atomkrieg, der die gesamte Menschheit vernichtet. Für ihn war die Herausforderung klar: Pazifismus muss mehr sein als die Ablehnung von Waffen. Er wollte eine neue Kultur der Gewaltlosigkeit aufbauen mit dem Ziel, Krieg zu verhindern. Dabei lehnte er nicht in jedem Fall Krieg und Gewalt ab. Er unterschied eine Gewaltlosigkeit „des Stärkeren“ und eine Gewaltlosigkeit „der Schwachen“.
Problematisch ist also nicht eine Theologie, die annimmt, dass Gewaltanwendung notwendig sein kann, sondern eine Theologie, die zugleich die Ansprüche der Mächtigen und Etablierten unterstützt, die gegen das Gemeinwohl der Menschheit oder gegen die Rechte der Unterdrückten gerichtet sind.
(Seite 261)
Für Thomas Merton ist die heutige Gewalt eine Gewalt „der weißen Westen“, der durchorganisierten bürokratischen und technologischen Zerstörung des Menschen. Die Theologie sollte das wahre Problem nicht aus den Augen verlieren. Es ist nicht irgendein Individuum mit einer Pistole in der Hand, sondern Tod oder sogar Völkermord als großes Geschäft. (Seite 261/262).
Um in diesen ,Geschäftsbeziehungen‘ einen Schritt zum Frieden gehen zu können, ist es laut Merton notwendig, den Gegner nicht nur als Kriegstreiber zu brandmarken, inhuman und grausam, sondern in ihm auch einen möglichen Verhandlungspartner zu erkennen, mit dem ich in Dialog treten will. Im Blick auf den Ukraine Krieg ist dies ein im augenblicklichen Moment des Krieges eine gewaltige Herausforderung.
Merton schreibt weiter:
Überall, wo ein großes Ideal im Spiel ist, besteht die Gefahr des Pharisäertums, und die Gewaltlosigkeit macht dabei keine Ausnahme. Pharisäertum lebt von der Gegenüberstellung: Hier das moralisch oder sozial hochstehende Selbst und die Elite, der es angehört, dort die Anderen, die Bösen und Aufgeklärten…
(Seite 292/293)
Eine solche ,Sündenbockeinteilung‘ in Gut und Böse – Ukraine gut, Russland böse – macht eine realistische Gewaltlosigkeit nicht mit. Es geht ihr nicht um Trennung und Spaltung, sondern christlicher Gewaltlosigkeit geht es um Einheit und Gemeinsamkeit der Menschheit. Es geht um einen pragmatischen Pazifismus (Olaf Müller). Der könnte auch eine Stärkung der militärischen Positionen der Ukraine vorsehen, um Russland zurückzudrängen und um Friedensverhandlungen einzufordern.
Über den Autor
Theo Paul ist Domkapitular und unter anderem für die Krankenhäuser, Klöster und geistlichen Orte im Bistum Osnabrück zuständig. In seinen Blogbeiträgen greift er gerne aktuelle Themen auf.
Zugleich brauchen wir dann eine selbstkritische Sicht der Entwicklungen in Europa nach 1989. Haben wir den Beitrag des russischen Volkes an der Überwindung des Eisernen Vorhangs genügend gewürdigt? Wie war es mit der Würdigung der Leistung von Michael Gorbatschow mit seinem ersten Schritt der Vorleistung zum Frieden? Wurde dieser Schritt nicht fälschlich als Schwäche gedeutet?
Wir brauchen differenzierte Debatten über die Veränderungsprozesse in Ost und West. Sie wären Teil einer sich entwickelnden Kultur der Gewaltlosigkeit. Das ,alte‘ Buch von Thomas Merton kann Reflexion auslösen, die uns heute zu neuen Wegen in der Friedensarbeit führen. Sie können Ideengeber sein für eine Überwindung des Krieges in der Ukraine.